Deutschlandfunk Kultur - 13.05.2019 - Politisches Feuilleton
Wie sinnvoll sind Grenzen in einer „verflüssigten“ Welt? Sich einfach den Blick zu verbauen, helfe auf keinen Fall, meint Philipp Blom.
Mauer bauen, Stacheldraht ausrollen: Mit Abschottung lassen sich Klimawandel oder Massenflucht von Menschen nicht verhindern, warnt der Historiker Philipp Blom. Sein Vorschlag: Abschied vom „toxischen Wirtschaftswachstum“.
Die Idee der Grenze ist wieder da. Überall entstehen Barrieren, die reiche Welt schottet sich ab gegen den Rest, mit Stacheldraht und Betonmauern, mit Drohnen und Militär und gelegentlich mit tödlicher Gewalt. Was ist passiert?
Die Welt hat sich verflüssigt. Was gestern noch solide schien, ist längst in Bewegung geraten und was gestern noch unvorstellbar weit weg war, kommt heute direkt zu uns. Die Klimakatastrophe, die sich immer deutlicher manifestiert, erfasst alle Kontinente. Finanz- und Warenströme sind längst global und unentwirrbar verzahnt; religiöse und rassistische Terroristen inspirieren einander übers Internet vom Irak über die USA bis nach Neuseeland.
Immer mehr Menschen sind gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen oder wandern auf der Suche nach einem besseren Leben aus. Massentourismus und globalisierte Produktionsketten fressen sich tiefer ein in natürliche und soziale Zusammenhänge weltweit. Wenn ich ein T-Shirt kaufe war die letzte Person, die es vor mir berührt hat, vielleicht ein Kind in Bangladesch.
„Flüssige Moderne“ nannte der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman dieses Phänomen schon vor 20 Jahren. Eine soziale Revolution hat von der Gleichstellung der Frauen bis zu den Rechten von Minderheiten ganz neue gesellschaftliche Regeln und Gesetze geschaffen.
Was gestern noch als anständig galt, ist heute spießig, was als natürlich angesehen wurde, ein instabiles Konstrukt. Nirgends scheint die Welt mehr solide zu sein. Nach 50 Jahren einer immensen wirtschaftlichen Entwicklung, die von fossilen Brennstoffen befeuert wurde, beginnen die Nebenwirkungen unseres Wohlstands uns zu überwältigen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten konnten westliche Länder die dunkle Seite des Fortschritts exportieren — aus den Augen aus dem Sinn. Die Kriege, die der Westen um Rohstoffe und regionale Macht führte, fanden weder in Europa statt, noch in den USA. Ihre billigen Produkte ließen westliche Konzerne da herstellen, wo Arbeit nicht nur günstiger sondern auch weniger geschützt war. Beide Welten waren schon allein durch die Entfernungen voneinander weitgehend getrennt.
Jetzt aber ist Reisen billig geworden, Smartphones bringen das Internet in die entlegensten Winkel der Welt und eine globale Bewegung setzt ein. Jetzt macht die globale Erwärmung deutlich, dass es für Europa überlebenswichtig ist, wie in China, Afrika und auf der Antarktis gewirtschaftet wird, ob in Syrien Krieg herrscht, wieviel Regenwald pro Tag verschwindet, wie viele niemals beschriebene Arten.
So viel Vernetzung und fließende Unsicherheit bedeutet Kontrollverlust. Also werden Mauern gebaut und Stacheldraht wird ausgerollt, um die Bedrohung draußen zu halten. Auf sicherem Abstand. Um innen wieder zurückzufinden zu den ewigen Werten des einen Volkes und des Vaterlandes. Etwas, wohinter man sich verstecken kann.
Es ist die schiere Angst, die sich hinter Mauern verstecken will. Aber es gibt kein Zurück aus der globalisierten Welt, die wir gebaut haben, die mächtigen Ströme der Gegenwart lassen sich nicht eindämmen und es hilft auch nicht, sich einfach den Blick zu verbauen.
Die Angst, allerdings, ist ganz realistisch. In einer Welt der steigenden Temperaturen und Ozeane und der kollabierenden Ökosysteme, in der immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen werden, gibt es auch für den reichen Westen keine Zukunft, die so etwas wie Zuversicht rechtfertigt. Dabei bleibt keine Zeit für Hoffnungslosigkeit.
Nur radikale Veränderungen werden es ermöglichen, sich in der flüssigen Welt zu orientieren. Vielleicht ist es dem Junkie Homo sapiens doch noch möglich, seine Kohlendioxid-Sucht loszuwerden, nicht mehr an der Nadel eines toxischen Wirtschaftswachstums zu hängen. Dann wäre es möglich, wieder einen realistischen Grund zur Hoffnung auf eine gute Zukunft zu sehen. Dann brauchen wir auch keine Mauern mehr.