Von Christoph Arens | welt.de
Lange Winter und kurze, kühle Sommer: Im 17. Jahrhundert änderte sich das Klima in Europa dramatisch. Hungersnöte waren die Folge. Der Historiker Philipp Blom hat erforscht, wie der Kontinent die „Kleine Eiszeit“ überlebte.
Was passiert in einer Gesellschaft, wenn sich das Klima ändert? Wer stirbt, wer überlebt? Was bricht zusammen, und was wächst? „Es wirkt wie ein sadistisches Experiment“, erdacht von einem „böswilligen Dämon oder einem außerirdischen Wissenschaftler, ein Tierversuch mit ganzen Gesellschaften“, schreibt der Historiker Philipp Blom in seinem neuen Buch „Die Welt aus den Angeln.“
Das Experiment ist mit Blick auf den gegenwärtigen Klimawandel hochaktuell. Doch der in Wien lebende Blom schaut zurück und hat eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 geschrieben. Ein Lehrstück, das Gewinne und Verluste offenbart. Eine Fallstudie, die die Geburt der modernen Welt mit dem Klimawandel verbindet.
„Etwas Bedrohliches war im Gange“, konstatiert Blom mit Blick auf die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Lange Winter, kurze, kühle Sommer: „Die Themse war bis nach London hinein so dick zugefroren, dass Marktstände auf dem Eis errichtet werden konnten.“ Tiefer Schnee bedeckte auch Teile Italiens und Spaniens. „Europa war ein eisiges Reich.“ Und die Maler von Brueghel bis Averkamp entdeckten das Genre der Winterlandschaften.
Zwischen 1570 und 1685 gab es einen Rückgang der Durchschnittstemperatur um zwei bis drei Grad. Wochenlanger Regen und Dürre brachten Hungersnöte, steigende Brotpreise führten zu Aufständen. Erst 80 Jahre später erreichten die Ernten in Europa wieder die Mengen von 1570.
„Es ist unglaublich, wie sehr sich die europäischen Gesellschaften zwischen 1600 und 1700 innerhalb von drei Generationen verändert haben“, bilanziert Blom. „Eigentlich ist es ein Naturgesetz: Wenn sich unsere Umweltbedingungen ändern, müssen auch wir uns ändern. Und jetzt sind wir wieder in einer Zeit, die auf einen großen Klimawandel zugeht.“
Die Antwort der Menschen damals wandelte sich: Zunächst interpretierten sie die bedrohlichen Wetterkapriolen als Strafe Gottes. „Wenn es eine schlechte Ernte gab, bedeutete das: Wir müssen Bußprozessionen machen.“ Nicht von ungefähr ist diese Zeit die Hochphase der Hexenverbrennungen. Doch die religiöse Erklärung verlor immer mehr an Plausibilität.
Die Menschen begannen, die Lösungen in der Natur zu suchen. Botaniker probierten neue Anbaumethoden aus, experimentierten mit Kartoffeln und Tomaten. Ihre Erkenntnisse wurden europaweit publiziert. Die seit Jahrhunderten unveränderte Landwirtschaft wurde effizienter.
„Das war ein Modernisierungsschub durch Wissen“, stellt Blom fest. Im Mittelalter waren es allein die Mönche, die miteinander diskutierten und lesen konnten. Jetzt, im Zeitalter der Aufklärung, entstand in den Städten ein öffentlicher Raum für Debatten und Wissenschaft. Das Bürgertum stieg auf. Und eine neue Wirtschaftstheorie setzte sich durch. Europa erfand laut Blom ein neues Rezept, um mächtig zu werden: Kapitalismus und Wirtschaftswachstum – das allerdings auch auf Ausbeutung beruhte.
Denn Spanier, Portugiesen, Niederländer und Briten eroberten die Welt, gründeten Kolonien, raubten Gold und Sklaven. Zugleich entwickelten sich die Ideen der Toleranz und der Menschenrechte. Kaufleute wurden die Agenten der Globalisierung. Amsterdam, im 16. Jahrhundert eine kleine, unbedeutende Stadt, importierte Getreide aus dem Baltikum und verkaufte es in Europa – eine Ursache für das anbrechende Goldene Zeitalter der Niederlande.
Immer mehr Wachstum, immer mehr Ausbeutung: Für Blom stößt dieses Rezept heute an seine Grenzen. Genau jene Strategien, die sich während der Kleinen Eiszeit entwickelt haben, seien Ursache für den nächsten, den heutigen Klimawandel. „Mit Wirtschaftswachstum wird man die Krise nicht mehr bewältigen können“, meint der Autor. „Die Flüchtlinge sind ein Symptom dieser Veränderung. Ich glaube nicht, dass wir schon genug darüber nachdenken.“