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Schafft die Museen ab!

Wir verehren das Alte, nur weil es alt ist. Warum tun wir das? Weil wir ein perverses Verhältnis zur Vergangenheit haben

Hier waren sie also, der Stolz des Château de Fontainebleau, die berühmten Petits Appartements des Kaisers Napoleon, noch heute im Originalzustand erhalten. Die Stimme der Fremdenführerin bebte, als sie uns berichtete, die Einrichtung sei noch genau so, wie Bonaparte sie verlassen habe.

Der ehemalige Besitzer allerdings hätte diese Räume wohl kaum wiedererkannt: Die Tapeten waren verblichen, die seidenen Gardinen, die einmal im satten Rot geleuchtet hatten, waren resigniert ins Beige ermattet und an mehreren Stellen eingerissen unter dem eigenen Gewicht. Die Stühle hätten auch den kleinsten Korsen kaum noch ausgehalten, und wehe dem, der auf den Tischen versucht hätte, Pläne auszubreiten! Die Teilnehmer der Schlossführung störte all das nicht. Hier, auf diesem Stuhl hatte Napoleon gesessen, auf dieser Toilette hatte er (wahrscheinlich noch immer so laut diktierend, dass der Sekretär im Nebenzimmer ihn hören konnte) seine Notdurft verrichtet. Wahnsinn! Die Toilette, eine technische Neuerung in jener Zeit, löste betretenes Kichern aus. Ein Herr aus Kansas ließ sich den Mechanismus erläutern.

Mich selbst faszinierten die Vorhänge, oder eigentlich der Anspruch, den sie stellten. Dies waren unzweifelhaft Napoleons Gardinen, aber gleichzeitig wäre der effiziente Feldherr der Erste gewesen, der diese alten Fetzen ins Feuer geworfen hätte. Er hatte einen starken Sinn fürs Symbolische und hätte keinen Moment daran gedacht, sich mit dem verblichenen Glanz eines vergangenen Jahrhunderts zu umgeben. Er wollte neuen, eigenen Glanz. Heute aber erstarren wir vor Ehrfurcht vor einem zerfaserten Stück Stoff, das zu viel Sonne abbekommen hat. Der Hauch der Vergänglichkeit, der uns aus seinen Rissen anweht, mag in unserer sonst so effizient zu Tode restaurierten Welt eine Ausnahme sein, aber die Überzeugung, dass diese Gardinen bewahrenswert sind, ist allgemein verbreitet. Schlimmer noch: Ich teile sie.

Wir sind die erste Kultur der Weltgeschichte, die Altes verehrt, nur weil es alt ist, und unsere Museen sind Hochburgen der Konservierung unserer untoten Vergangenheiten. Das war nicht immer so. Die Sammlungen und frühen Museen der Renaissance waren voll von Neuem, von exotischen Tieren und seltsamem Gestein, von wissenschaftlichen Apparaten, fantasievoll montierten Drachen und ethnografischem Gerät. Das einzige Alte, was in ihnen Aufnahme fand, waren antike Kunstwerke – und auch die nur deswegen, weil in ihnen das Versprechen enthalten war, aus der heidnischen Antike heraus die große Macht der damaligen Zeit, die Kirche, zu transformieren, zu unterminieren.

Am Ende des 15. Jahrhunderts machte der italienische Sammler Ulisse Aldrovandi einige seiner besten Funde auf dem Fischmarkt, wo ihm Seeleute rätselhafte Kreaturen anboten. Bis dahin hatte man in Bibliotheken nach der Wahrheit gesucht, bei Plinius, Pythagoras und in der Bibel. Nun brachte jedes Schiff aus Amerika oder Indien Gegenstände nach Europa, über die diese Autoritäten nichts zu sagen hatten, und mit jeder neuen Ladung schwand die Macht der »Alten« ein bisschen mehr. Sammeln war intellektuelle Subversion.

Bis zum 19. Jahrhundert wandelte sich die Motivation von Museen radikal. Das Ethos des Klassifizierens und Konservierens wurde zur musealen Raison d’Être. Das neue, national basierte Geschichtsverständnis brauchte nationale Geschichte, die Wissenschaft konnte die Herrschaft der Vernunft und des Vaterlandes in endlosen Vitrinen demonstrieren. Der britische Kurator Sir William Henry Flower setzte dieser Geisteshaltung 1898 unfreiwillig ein Denkmal, als er einen jüngeren Kollegen beriet:

»Zuerst braucht man einen Kurator. Er muss sich sorgfältig den Zweck des Museums überlegen, die Art und die Fähigkeiten der Menschen, zu deren Belehrung es gegründet wird, und den passenden Raum… Dann wird er das zu illustrierende Wissensgebiet in kleine Gruppen unterteilen… Große Etiketten werden dann als Hauptüberschriften angefertigt, wie die Kapitel in einem Buch, und kleinere für die verschiedenen inneren Unterteilungen… Endlich kommen die veranschaulichenden Beispielobjekte, von denen jedes so bearbeitet und präpariert wird, dass es mit dem für ihn vorgesehenen Platz zurechtkommt.«

Das Wunderbare war aus der Welt verbannt, Gegenstände, die Rätsel aufgaben, waren zu Beispielobjekten eines zu illustrierenden Wissensgebietes geworden. Die Herrschaft des Geistes war, zumindest ihrem Anspruch nach, vollkommen.

Wir haben längst den uferlosen Glauben an Kultur und Geist verloren. Er ist auf den Schauplätzen der modernen Barbareien ermordet worden – an der Somme wie in Auschwitz, in Stalins Gulag, den Umerziehungslagern der Kulturrevolution und in den brennenden Dörfern von Vietnam. Die Zivilisation hat nicht geschützt vor alledem, und sie selbst ist deswegen erklärungsbedürftig geworden. Wir glauben nicht mehr an die Herrschaft des Geistes, die ist so verdächtig wie die Schönheit der Utopie und die Verführung der Macht, die Millionen mit sich gerissen hatten.

Unser Misstrauen und sein sentimentaler Zwilling, die Nostalgie, bestimmen unser Verhältnis zum Kulturbesitz in materieller und in ungreifbarer Form. Nur laufen wir längst Gefahr, nicht nur zu besitzen, sondern besessen zu werden. Wir sammeln und archivieren, wir konservieren, edieren und klassifizieren eine unabsehbare Flut von Dokumenten aller Art, von Akten bis Zugwaggons. Keine Fassade darf angetastet werden, jedem noch so trivialen Gegenstand wird historische Bedeutung zugesprochen. Unsere Hochkultur ist ein Repertorium ihrer eigenen Vergangenheit; der Sammelimpuls, der einmal subversiv und künstlerisch gewesen ist, ist ins Kuratorische, im Wortsinn Konservative umgeschlagen.

Noch heute stehen nichtwestliche Kulturen dieser Haltung oft verständnislos gegenüber. Wer die historischen Tempel von Kyoto besucht, wird finden, dass ein Gebäude zwar auf das 12. Jahrhundert zurückgeht, aber seitdem regelmäßig abgerissen und wieder aufgebaut wurde: Für den Ahnenkult des Shintoismus ist altes Gebälk wertlos. Was zählt, ist nur das Weiterführen einer lebendigen Tradition.

Wir sind die erste Kultur der Weltgeschichte, die Altes verehrt, nur weil es alt ist. Die Implikationen dieses Satzes für unser Selbstverständnis lassen sich kaum überschätzen.

Unser Altertumsfetischismus besteht noch nicht lange, und seine Geburt lässt sich historisch exakt verorten. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war Kultur hauptsächlich Gegenwartskultur. In Mozarts Wien hörte man neue Musik; ein altes Streichquartett war eines aus der letzten Saison. Das kulturelle Hauptereignis im vorrevolutionären Frankreich war der alljährliche Salon für neue Malerei. Es gab alte Kunst und Reliquien (religiös wie säkular), die eine geistige Ahnenfolge herstellten; niemand aber wäre auf die Idee gekommen, für einen zweihundertjährigen Stuhl mehr zu bezahlen als für einen neuen. Im Gegenteil. Wer es sich leisten konnte, richtete sich neu ein, wer sparen musste, passte seine Möbel tunlichst dem Zeitgeschmack an. Altes Zeug gab es nur in den endlosen Zimmerfluchten unbewohnter Schlossflügel und den Kramläden für arme Leute.

Mit architektonischen Monumenten war es ähnlich. Ein Fürst konnte sein Seelenheil fördern, indem er einer gotischen, längst nicht mehr modernen Kirche eine neue Fassade oder eine Generalüberholung stiftete. Dann wurden die originalen, jahrhundertealten Figuren einfach abgehackt und die Fresken mit neuem, puttenbewehrtem Stuck überputzt. Europa ist voll von solchen Kirchen, denn niemand hielt so etwas für ein kulturelles Sakrileg. Schließlich standen die Kirchen selbst auf älteren Kirchen, und diese auf römischen Tempeln.

Die Vergangenheit war nur ein Aspekt einer lebendigen, längst nicht abgeschlossenen Tradition. Sie wuchs und änderte dabei ihr Gesicht. Noch im viktorianischen England konnten Maler und Architekten der gotischen Abteikirche von St Albans, die einfach nicht gotisch genug aussah, eine neue, mit Türmchen, Statuen und Fensterrosen bewaffnete Fassade geben, während Eugène Viollet-Le-Duc die Sainte-Chapelle in Paris ähnlich fantasievoll »renovierte«. Um zu solchen Bauprojekten eine Parallele zu haben, stelle man sich vor, heute würde Frank Gehry großzügig anbieten, der Kathedrale von Chartres eine computergenerierte Stahlfassade zu verpassen. Der Gedanke schockiert uns, aber noch vor wenigen Generationen hätte kaum jemand ihn abwegig gefunden.

Was hat sich geändert? Wir haben uns geändert. Die Mittelklasse hat triumphiert, eine Klasse ohne Vergangenheit, dazu verdammt, über die eigene Schulter zu sehen. Von keiner Tradition gestützt, entdeckte das Bürgertum nicht nur seine Macht, sondern auch seine Schwerelosigkeit im Raum der Geschichte, und eine große Vergangenheit wurde zum notwendigen Ballast.

So kam es zur Erfindung der Antiquitäten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Wörter »Antiken« und »Antiquitäten« sowohl in Deutsch als auch in Französisch und Englisch austauschbar verwendet worden, und zwar für Stücke, die aus dem klassischen Altertum stammten. Jetzt aber wurde eine andere Art von historischer Anbindung gebraucht; alte Gegenstände wurden zu Boten einer verlorenen Authentizität. Balzacs fanatisch sammelnder Cousin Pons  (Le cousin Pons,  erschienen 1847) ist ein Repräsentant der neuen, bürgerlichen Mentalität, für die Altes eine eigene, reliquienhafte Aura hat. Auch Napoleons Petits Appartements wurden um diese Zeit herum in ihr Vergangensein eingesiegelt.

Das 20. Jahrhundert und besonders die Zeit nach 1945 hat diese Tendenz verstärkt und beschleunigt. Nach den großen und katastrophalen ideologischen Entwürfen der Totalitarismen trauen wir keiner Vision mehr, wir glauben nur noch an das, was wir mit Händen halten können. Die Wirtschaft hat die Politik verdrängt, und gleichzeitig wächst die Angst vor den Konsequenzen unseres Wohlstands. Im Schatten der Klimaveränderung, die durch unser Luxusleben angeheizt wird, sehen wir in jedem alten Suppenlöffel den Inbegriff einer intakten Welt. Während Regenwälder verschwinden und die Ozonschicht schmilzt, restaurieren wir minutiös die Gemäuer vergangener Jahrhunderte.

Die Kirchen, die im Barock neu dekoriert wurden, werden heute auf ihren gotischen »Originalzustand« restauriert. Kultur im Rückwärtsgang. In Berlin soll sogar ein barockes Stadtschloss wieder aufgebaut werden, von dem kein Stein mehr auf dem anderen steht und das nie einen besonderen ästhetischen oder historischen Wert hatte. Anstatt einen symbolträchtigen Baugrund als Chance für eine selbst gestaltete Zukunft zu nutzen, bauen wir uns unseren eigenen Hohenzollern-Themenpark.

Bewahren und Erhalten sind zum kulturellen Apriori geworden, zu Synonymen für Kultur schlechthin. Der Korrespondent der  Neuen Zürcher Zeitung  schrieb über die französische Kulturlandschaft vor einigen Wochen: »Mit der Eröffnung des Musée du Quai Branly, der Metamorphose der Cinémathèque française, des Petit Palais, des Musée de l’Orangerie und der Salle Pleyel sowie der Renovation des Théâtre de l’Odéon, des Musée d’Art moderne de la Ville de Paris und des … Grand Palais dürften die vergangenen zwölf Monate als eine ausserordentlich fette Zeit in die Kulturgeschichte der französischen Kapitale eingehen… Das Angebot scheint von Monat zu Monat reicher zu werden – sogar das Gemaule der hiesigen Snobs, in Berlin, London und New York sei ›mehr los‹, ist verstummt. Vielleicht wird man vom Beginn des 21. Jahrhunderts einmal als einer goldenen Zeit schwärmen…«

Eine »fette Zeit der Kulturgeschichte«, eine »goldene Zeit«? Nicht Maler und Schriftsteller, Musiker und Schauspieler vergolden diese Epoche, sondern Museen und Konzertsäle – Institutionen also, die Kunst verwalten und vermitteln, nicht aber schaffen. Um in Paris eine wirklich goldene Zeit zu finden, muss man hundert Jahre zurückgehen, als Proust und Picasso, Ravel und Sarah Bernhardt hier gleichzeitig arbeiteten. Eine goldene Zeit kultureller Institutionen ist eben leider keine goldene Zeit der Kultur. Allerdings haben wir uns längst an das Leben in der Vergangenheit gewöhnt: nicht nur in Museen, auch auf Konzert- und Theaterprogrammen sind wir überwältigt davon. Unsere Kultur selbst ist museal.

Unser Umgang mit der Vergangenheit erinnert auf fatale Weise an das wissenschaftliche Team, das sich um Lenins einbalsamierten Leichnam kümmerte: Geschminkt und mit Chemikalien vollgepumpt, galt die Mumie den Genossen als Beweis, dass es die geniale Epoche wirklich einmal gegeben habe. In seiner posthumen Erstarrung war nur noch wichtig, dass der Verfall nicht fortschritt.

Wir sind eine Kultur des ewigen Jungseins, der dauernden Neuerungen, die wieder in der Versenkung verschwinden, bevor sie altern können. So ist zwischen dem Hintergrundrauschen der Trends und der Mumifizierung des Alten eine Sphäre entstanden, die nicht mit Vergänglichkeit leben kann, weder mit dem Altern noch mit anderen Arten von Verfall. In unser Erbe einzugreifen, wie man es noch bis vor hundert Jahren selbstverständlich tat, wäre für uns eine Art Leichenschändung. Damit aber wird auch unsere Kultur nekrophil. In einer Welt, in der man keinen Schritt gehen kann, ohne einem Kurator auf die Füße zu treten, bleibt man am besten gleich stehen.

Die mumifizierte Vergangenheit wird nach wechselndem Zeitgeschmack geschminkt und aufgedonnert: Wenn sie doch eine eigene Stimme hat, ist sie suspekt, denn es ist die Sirenenstimme einer Zeit der gefährlichen Ideologien, die Stimme der Verführung. Wir misstrauen den Motiven und den Träumen der Vergangenheit. Wenn wir sie nicht in Formalin legen können, müssen wir sie neutralisieren, indem wir sie verkitschen oder analytisch unterwandern.

Nur eine tote Vergangenheit ist eine gute Vergangenheit, besonders, wenn sie noch dazu lukrativ sein kann. Touristen und andere Verbraucher wollen unterhalten werden. Je einfacher und antiseptischer die Präsentation, desto größer die Einnahmen. So haben viele Museen ein Gutteil ihrer alten, prall gefüllten Glaskästen weggepackt und präsentieren jetzt eine konsumfreundliche Story-Version ihrer Exponate, auf ein Minimum zusammengeschrumpft und optimal aufbereitet durch Computeranimationen, Audio und Video. Didaktik-Entertainment mit echten Requisiten.

Das Schlimmste, was einem Konsumenten passieren kann, ist es, mit einer fremden Stimme, einer schwer verständlichen Vielfalt allein gelassen zu werden. Also wird mundgerecht aufbereitet und gnadenlos simplifiziert. Sogar im Louvre sind überall hilfreiche Hinweisschilder zur  Mona Lisa  und zur  Venus von Milo angebracht, direkt an Tausenden von anderen (oft interessanteren) Werken, die bloß noch den Heilsweg der Besucher säumen. Es wäre wesentlich sinnvoller, Leonardos Schöne gleich nach Disneyland Paris auszusiedeln, so würden sich Millionen von Touristen einen lästigen Umweg sparen.

Eine ganze Kultur starrt auf Napoleons Gardinen. Nur die Perspektive der Zuschauer unterscheidet sich – die einen lugen von innen furchtsam hinaus in die böse weite Welt jenseits der historischen Sicherheiten, die anderen glotzen neugierig hinein, um sich am musealen Spektakel zu belustigen.

Hier ist es an der Zeit, mein Geständnis zu erneuern: Ich selbst bin Teil dieser fetischistischen Kultur. Ein jahrhundertealtes Meisterwerk berührt mich (meist leider mehr als der Großteil der zeitgenössischen Produktion), die Oberfläche einer alten Tür und der Geruch eines antiquarischen Buches können mich begeistern. Ich selbst bin Historiker. Ich bin mittendrin. Gleichzeitig aber suche ich nach einem Ausweg aus dem Museum, denn ich lebe heute und will den Puls meiner eigenen Zeit spüren, jenseits von Massenkommerz und den letzten Zuckungen einer ideenleeren Avantgarde.

Vor einigen Jahren wurde der Dirigent und Komponist Pierre Boulez in seinem Baseler Hotel festgenommen. Der alte Herr stand unter Terrorverdacht. Wie sich später herausstellte, hatte er in seiner wilden Zeit, während der siebziger Jahre, verlauten lassen, man solle alle Opernhäuser in die Luft jagen. Die eifrigen Schweizer Behörden hatten ihn damals auf eine Liste von Terrorverdächtigen gesetzt, und nach dem 11. September 2001 war diese Liste wieder ausgegraben worden.

Können wir die Geister unter den angehäuften Grabsteinen unserer Vergangenheit wieder zum Leben erwecken, ohne die Methoden der Taliban anzuwenden, als sie die Buddhastatuen von Bamiyan sprengten? Schließlich sind selbst Museen nicht immer konservativ gewesen. In der Renaissance waren sie Werkzeuge der kulturellen Umwälzung und der individuellen Fantasie. Was die Kultur der Naturalienkammern und Wunderkabinette antrieb, war die Intuition, dass die Objekte mehr zu sagen hatten, als man bereits wusste, dass sie eine eigene Stimme hatten, dass man ihnen zuhören und in ihre eigenen Geschichten folgen musste.

Wir haben unsere Verbindungen mit der Vergangenheit gekappt, weil wir ihren anarchisch raunenden Stimmen misstrauen und weil wir sie als zutiefst andersartig begreifen, eine vormoderne Epoche, eine Zeit der Ignoranz, der wir entwachsen sind. Ob römische Ruine oder Bergwerksturm von 1920 – die Überbleibsel der Vergangenheit sprechen von einer Welt, die nicht mehr die unsere ist. Ohne die historische Kontinuität aber bleibt nur die seltsame Brühe aus konzeptueller Beliebigkeit und archivarischer Nekrophilie, in der wir seit Jahrzehnten leise köcheln.

Das Raunen der Vergangenheit, das uns so viel Angst macht, gehört zu uns. Wir brauchen den Ballast der Vergangenheit. Ballast hat die Funktion, dem Vorwärtsgehenden Gewicht und Richtung zu geben. Wer weiterkommen will, braucht Ballast, er muss aber auch bereit sein, einen Teil davon über Bord zu werfen.

Kreativität entspringt aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit und Vergänglichkeit, aus der Dialektik von Eros und Thanatos. Ist das romantisch gedacht? Vielleicht – aber in einer Landschaft, in der jede Ruine bis auf den letzten Kiesel festzementiert und mit Parkplatz und DIN-normierten Geländern versehen ist, hätten wohl weder Shelley noch Caspar David Friedrich viel Inspiration gefunden. Es ist ja gerade das Wissen, dass die Ruine im Zerfall begriffen ist, die sie mit unserer Gegenwart verbindet. Wenn wir diese Verbindung nicht wiederfinden, bleibt der Ausgang aus dem Museum unserer Kultur verschlossen. Bei Napoleon muss dringend durchgelüftet werden, auch wenn seine brüchigen Gardinen anfangen sollten, gefährlich im Wind der Gegenwart zu flattern.

Wir brauchen nichts so sehr wie Mut zur Vergänglichkeit.

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