NDR Kultur | Natascha Freundel
"Wer über die Zukunft nachdenken will, muss einen Satz aus seinem Vokabular streichen. Dieser Satz lautet: 'Das kann nie passieren.'" Ein Zitat aus dem neuen Buch des Historikers Philipp Blom mit dem Titel "Was auf dem Spiel steht". Die Antwort gibt der in Wien lebende Bestseller-Autor gleich auf den ersten Seiten: Alles. In Zeiten des Klimawandels und der Digitalisierung ist nichts unmöglich und alles steht auf dem Spiel, vor allem die Errungenschaften der westlichen Zivilisation: also Demokratie, Freiheit, Toleranz, Wohlstand.
Herr Blom, was hat für Sie den Ausschlag gegeben, nach Ihren Studien zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zur kleinen Eiszeit zwischen 1570 und 1700 sich nun ins kalte Wasser der Gegenwart zu stürzen?
Philipp Blom: Was mich dazu bewogen hat, ist, dass ich in diesem Wasser zwangsläufig schwimme. Geschichte ist ja auch nur interessant, weil sie uns Dinge über uns selbst erklärt: wo wir herkommen und was für Strukturen am Werk sind. Und genau diese Perspektive kann man auch auf die Gegenwart anwenden: Was für Strukturen sind das, wo treiben sie hin und was könnte das für uns bedeuten? Das ist durchaus eine historische Sicht auf die Gegenwart.
Wie würden Sie denn die wichtigsten Strukturen unserer Gegenwart beschreiben?
Blom: Da gibt es besonders zwei Sachen, die für mich wichtig sind. Der Klimawandel wird enorme Umwälzungen bringen, viel mehr am Äquator, aber sicherlich auch bei uns. Auch die Digitalisierung ist etwas, was unser ganzes Arbeitsleben und damit unsere ganze Gesellschaft umkrempeln wird, wenn immer mehr Menschen immer weniger Arbeit haben. Man merkt jetzt schon, wie viel Angst Menschen vor dem sozialen Abstieg haben, dass ihnen jemand etwas wegnimmt. Diese Angst könnte damit wachsen.
Nun ist das etwas, worauf eine Gesellschaft reagieren kann, es gibt durchaus sehr interessante Möglichkeiten, wie man in einer Gesellschaft ohne Arbeit oder mit wenig Arbeit gut leben kann. Aber das müssen wir auch tun. Ich habe das Gefühl, dass wir eigentlich eine Gesellschaft sind, die gar keine Zukunft will. Wir wissen, dass Zukunft Veränderung ist, und Veränderung eigentlich immer Verschlechterung für uns ab jetzt sein muss. Und deswegen wollen wir nur, dass die Gegenwart nicht aufhört. Aber so kommt man nicht weiter in einer Gesellschaft und so wird man nicht zukunftsfähig. Diese Veränderungen, Klimawandel und Digitalisierung, passieren - ob wir das wollen oder nicht. Unsere Frage ist nur: Wollen wir diese Veränderung mitgestalten oder wollen wir sie irgendwann nur erleiden?
Wie müsste sich denn unser Denken und Handeln ändern, um angemessen auf den Klimawandel und die Auflösung unserer Arbeitswelt durch schlaue Maschinen zu reagieren? Haben Sie einen Lösungsvorschlag?
Blom: Ich glaube, wir müssen alle gemeinsam über die Antworten nachdenken. Wir gehen immer davon aus, dass die Dinge so sind, weil sie nun mal so sein müssen, und das ist halt normal. Das ist ein Irrtum. Die meisten Gesellschaften und historischen Entwicklungen sind ziemlich zufällig und könnten auch ganz anders sein. Das heißt, wir könnten auch mit unseren Gesellschaften in eine andere Richtung. Und das bringt mich zum zweiten Punkt: Wir sind im Moment in einem Wirtschaftssystem, das darauf angewiesen ist, zu wachsen. Deshalb sind wir darauf angewiesen, immer mehr Energie zu verbrauchen und immer mehr Müll auszustoßen. Das ist ein Modell, das so nicht weitergehen kann. Da müssen wir uns umsehen, was es für Alternativen gibt. Können wir in gesunden Ökonomien leben, die nicht gezwungen sind zu wachsen? Denn mit diesem Wachstum hängt auch zusammen, dass dieses Wachstum Konsumenten braucht, die immer neues Zeug kaufen, was sie nicht brauchen. Und diese Konsumenten wurden ganz bewusst erfunden. Man muss nicht in einer Hyper-Konsumgesellschaft leben, es gibt genug Gesellschaften, die das nicht tun. Und auch unsere Gesellschaften hatten mal andere Ideale. Das heißt nicht, dass wir zu ihnen zurückkehren müssen, aber dass wir uns bewusst sein müssen: Das, was heute ist, ist nicht so, weil es so sein muss. Das könnte auch besser sein.
In Ihrem Buch zur kleinen Eiszeit von 1517 und 1700 schildern Sie die Entstehung der modernen Welt aus einer Klimaveränderung von zwei Grad in Europa, als hätte die kalte Luft die Ideen der Aufklärung befördert. Sie haben gesagt, dass aber heutzutage offenbar die Veränderungen kein neues Denken hervorbringen, dass sich die Menschen als Gewohnheitstiere an dem festklammern, was sie haben und konservativ reagieren. Können wir aus der Geschichte, die Sie in Ihrem vorherigen Buch beschreiben, lernen?
Blom: Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, man kann sich als Individuum durchaus mit Geschichte beschäftigen und sehen: Menschen ticken so, Gesellschaften machen dies, und wir unterliegen der selben Logik. Das Problem ist, dass Gesellschaften nicht immer im gleichen Chor singen und die gleiche Stimme singen. Da gibt es Interessenkonflikte und auch Interpretationskonflikte über Geschichte. Die eine Lehre da herauszuziehen, gelingt in größeren Gesellschaften nur sehr selten.
Es gibt Reaktionen auf Traumata - das haben wir in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Deswegen hatten wir damals zum Beispiel auch Soziale Marktwirtschaft, weil die politische Priorität war, Menschen nicht wieder so absacken zu lassen, dass wir wieder in einer Weimarer Republik landen. Aber diese Reaktion, die Nachkriegszeit, ist jetzt vorbei und eine neue Zeit fängt an, wo diese Reflexe nicht mehr stimmen. Für viele Menschen, die Einfluss und Macht haben, geht es nicht mehr darum, Gesellschaften zu schaffen, die einen starken Zusammenhalt haben, die solidarisch sind. Sondern es geht viel stärker um wirtschaftlichen individuellen Erfolg - und diese Priorität müssen wir uns sehr sorgfältig ansehen.
Um noch einmal auf den Satz zurückzukommen, den ich eingangs zitiert habe: Die tröstlichen Worte "Das kann nie passieren" können wir getrost vergessen. Aber können Menschen gut mit dem Gedanken leben und zusammenleben, dass "nichts an der gegenwärtigen Situation natürlich und notwendig ist", dass also alles kontingent ist?
Blom: Das kann einem auch sehr viel Hoffnung geben, denn das, was wir im Moment haben, ist nur für sehr wenige Menschen gut: global nur für den reichen Westen und in den Gesellschaften nur für diejenigen die reich sind. Die Tatsache, dass nichts normal sein muss, kann einem sehr viel Hoffnung geben, dass auch positive Veränderung möglich ist. Aber wir müssen wissen: Die Veränderung kommt, das ist nicht mehr unsere Wahl. Wir müssen uns nur überlegen, wie wichtig es uns ist, in Staaten zu leben, die wirklich demokratisch sind. Dafür brauchen wir genug Menschen, die selbst investiert sind in die Idee der Demokratie. Und wenn mehr Menschen finden, dass Demokratie für sie nicht interessant ist, dann wird die Demokratie auch in unseren Ländern aufhören. Dann verschwinden auch solche Ideen wie Menschenrechte. Das muss nicht passieren, aber ich glaube, es kann sehr gut passieren. Wir sehen es schon in Europa um uns herum: Es gibt große Umwälzungen, und wir müssen uns im Klaren sein, dass das Schlimmste passieren könnte. Und nur wenn wir das wissen, dann können wir auch mit genug Überzeugung dagegensteuern.
» gesamten Artikel lesen / anhören:
http://www.ndr.de/kultur/Philipp-Blom-ueber-sein-Buch-Was-auf-dem-Spiel-steht,journal952.html