Der Standard Spezial - 16.09.2022 - Daniel Ender
Junge Tastenvirtuosinnen wie Beatrice Rana oder Jan Lisiecki pflegen den perfekten Anschlag
Den Unterschied möchte ich Klavier spielen können!" Vor nicht allzu langer Zeit war dieser Ausspruch – man sagt, gerade in Wien – in aller Munde. Dabei war es wohl der Berliner expressionistische Dichter Alfred Liechtenstein, der ihn zum ersten Mal verwendete, um mit dem grotesken Vergleich einen extremen Gegensatz zu verdeutlichen.
Ein Kind, das sich gerade erst mit dem Instrument vertraut machte, meinte hingegen einmal: "Warum heißt das, der Unterschied ist groß? Man muss doch am Klavier auch ganz kleine Unterschiede spielen können!" Diese Beobachtung lässt sich anhand eines der großen Meisterwerke des späten 20. Jahrhunderts vertiefen, Helmut Lachenmanns etwa halbstündiger Serynade – einer geradezu nuancenbesessenen Studie über den verklingenden Klavierklang mit einer wahren Unzahl von Schattierungen.
Anton Gerzenberg wird dieses Stück zum Auftakt des Zyklus "Great Talent" im Berio-Saal interpretieren (10. 10.). Zuvor spricht der Hamburger, Jahrgang 1996, mit dem Autor und Historiker Philipp Blom über das Thema "Interpretation – einem Geheimnis auf der Spur.
Wie verschieden interpretatorische Ansätze auf dem Klavier sein können, weiß jede Konzertbesucherin aus eigener Hörerfahrung. Der Herbst im Wiener Konzerthaus ermöglicht durch seine ausgesprochene Vielfalt eine Reihe direkter Vergleiche von Künstler(innen)persönlichkeiten. Als Auftakt zum Zyklus "Meisterwerke" gastieren Martha Argerich und Zubin Metha am Pult der Wiener Philharmoniker für Bruckners 4. Symphonie und Schumanns Klavierkonzert (21. 9.).
Weitere Solo-Orchester-Begegnungen gibt es im Oktober in dichter Folge: So kommt die Camerata Salzburg unter Leitung ihres Konzertmeisters Gregory Ahss mit Musik von Gluck und Méhul – sowie mit Beethovens 4. Klavierkonzert und dem Solisten Jan Lisiecki (10. und 11. 10.).
Der Kanadier, Jahrgang 1995, ist Absolvent der Glenn Gould School, bereits mehrfach preisgekrönt und hat (mit der Academy of St Martin in the Fields) alle Beethoven-Konzerte aufgenommen. Das vierte von ihnen schätzt er ganz besonders, weil es "so kühn, forschend und innovativ ist. Ich mag es, wenn, wie hier, zum ersten Mal Grenzen überschritten werden."
Die weiteren Interpreten am Klavier im Konzerthaus-Herbst sind mehrfache Wettbewerbsgewinner und gehören zu den Jungen, mit Ausnahme des erfahrenen, wegen der ihm eigenen Verbindung von Virtuosität und Tiefgang unter Kennern sehr geschätzten, beim großen Publikum aber gar nicht so bekannten Sergei Babayan, Jahrgang 1961. Er wird mit den Wiener Symphonikern unter Leitung von Dima Slobodeniouk – vor der 1. Symphonie von Tschaikowsky – das 2. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew spielen (21. 10., 19.30 Uhr und 23. 10., 11 Uhr).
Unmittelbar nach ihm gastiert der Shootingstar Bruce Liu, Jahrgang 1997, Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2021, mit Sergej Rachmaninows halsbrecherischer Paganini-Rhapsodie gemeinsam mit dem Orchestre symphonique de Montréal und Dirigent Rafael Payare (23._10., 19.30 Uhr). Außerdem auf dem Programm: die Scorpius-Ouvertüre von R. Murray Schafer sowie Schostakowitschs 10. Symphonie: das aufwühlende Porträt des Diktators Josef Stalin.
Und bereits Anfang Oktober lädt Beatrice Rana, Jahrgang 1993, zu einem Solorecital in den Mozart-Saal. Im Vorjahr lobte sie die Süddeutsche Zeitung für eine "stupende Technik, die bei Ökonomie der Bewegung und einer fast unbeteiligten Mimik einen Klangrausch nach dem anderen produziert". Nun widmet sich Rana mit Ludwig van Beethovens Hammerklaviersonate und Frederic Chopins b-Moll-Sonate zwei absoluten Meilensteinen der Klavierliteratur. Ihre "Fähigkeit, an die Extreme des Klangs zu rühren", wird beiden äußerst anspruchsvollen Stücken dabei sicher zugutekommen (5. 10.).