Klimawandel beeinflusst Lebensbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen. Wie weit dieser Einfluss reicht, versucht der Historiker Philipp Blom am Beispiel der Kleinen Eiszeit in seinem Buch "Die Welt aus den Angeln" nachzuvollziehen. Diese herrschte von 1570 bis 1700 - und bedingte vermutlich zum Beispiel den landwirtschaftlichen Wandel.
Es sind eindrucksvolle Zeitzeugenberichte, mit denen der Autor Philipp Blom seine Darstellung anreichert. Wie Menschen die Veränderung klimatischer Umweltbedingungen erleben, erfahren wir zum Beispiel von Daniel Schaller, geboren in Stendal 1550 und dort als Pastor an der Marienkirche 1630 auch gestorben - eine für die damalige Epoche bemerkenswert lange Lebensspanne. Doch es waren, glaubt man Schallers Aufzeichnungen, keine guten Jahre.
"Die Sonne, Mond und andere Sterne leuchten, scheinen und wirken nicht mehr so kräftig als zuvor. Es ist mehr kein rechter beständiger Sonnenschein, kein steter Winter und Sommer. Die Früchte und Gewächse auf Erden werden nicht mehr so reif, sind nicht mehr so gesund als wie sie wohl ehezeit gewesen."
Viele Zeitgenossen machten vergleichbare Erfahrungen. Dichter des elisabethanischen Englands verfassten schwermütige Verse auf den Winter, der so schrecklich geworden war, "als hätte die Natur den Frühling vergessen". In Wien klagten ehedem wohlhabende Weinhändler über Verarmung, nachdem sieben Jahrgänge hintereinander durch Kälte und Regen missraten waren. Ganz Europa erlebte in den Jahren um 1570 einen Temperatursturz.
"Es wirkt wie ein sadistisches Experiment, erdacht vom kapriziösen Gott Hiobs […]: Was passiert, wenn ich eine Population von Homo sapiens auswähle […] und Temperatur und Wetter ihrer Umgebung verändere? Wer überlebt, wer stirbt? Was bricht zusammen und was wächst? Finden die krabbelnden Tierchen einen Ausweg aus einer Krise, die ihre Existenz bedroht?"
Blom erfasst gesellschaftliche Veränderungen ab dem 16. Jahrhundert
Philipp Blom ist Philosoph und Historiker, publiziert in englischer wie deutscher Sprache, lebt nach Aufenthalten in Paris und London derzeit als Schriftsteller in Wien. Worum es in seinem neuen Buch geht, entnimmt der Leser dem Untertitel, der in seiner Ausführlichkeit selber eines barocken Druckwerkes würdig wäre:
"Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart."
Die Kleine Eiszeit ist ein von Klimahistorikern gründlich erforschtes Phänomen, für Blom der Referenzrahmen seiner Darstellung. Sie löste eine Wärmeperiode ab, in der Wikinger an den eisfreien Küsten Grönlands Viehzucht trieben und die Jahresdurchschnittstemperatur in Europa um zwei Grad über dem heutigen Niveau lag. Vom 14. Jahrhundert an war es damit allmählich vorbei. Die Temperaturen sanken und erreichten ihren Tiefststand 200 Jahre später in der von Blom behandelten Epoche. Er erwähnt die niederländische Malerei, in der im späten 16. Jahrhundert das Genre der Winterlandschaft entstand. In London standen 1608 Marktbuden auf der Themse, in Paris wachte König Heinrich IV. eines Morgens mit vereistem Bart auf.
Die Frage, die Blom durchaus auch mit Blick auf die Probleme der Gegenwart stellt, lautet: Was macht der Klimawandel mit den Menschen?
"Welche […] Auswirkungen hat eine Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen auf ihre Kultur, ihren emotionalen und intellektuellen Horizont? Das […] 17. Jahrhundert macht es möglich, die Auswirkungen des Klimawandels auf alle Aspekte des menschlichen Lebens […] verstehen zu lernen."
Sind die Neuerungen klimabedingte Anpassungsleistungen?
Das Neue an diesem Buch ist, dass der Autor zwei bekannte historische Phänomene in einer ungewohnten Zusammenschau miteinander verknüpft, die frühneuzeitlichen Klimadaten und die Anfänge des modernen Europa. Er entfaltet ein imposantes politik-, wirtschafts- und geistesgeschichtliches Panorama. Beschreibt, wie sich durch weiterentwickelte Feuerwaffen die Kriegsführung modernisierte. Schildert den Aufschwung des globalen Handels und die koloniale Expansion. Die Geburt des modernen Staates aus dem Geist merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Und er konstatiert einen bemerkenswerten geistesgeschichtlichen Wandel: Zunächst hätten Zeitgenossen die Wetterphänomene als göttliche Zeichen gedeutet und versucht, mit Gebeten und Bittprozessionen Abhilfe zu schaffen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war von solch theologischer Interpretation keine Rede mehr. In Europa hatte sich etwas Neues etabliert, eine aufgeklärte Debattenkultur, in der die Grundlagen eines wissenschaftlichen Weltbildes entstanden.
Die Frage ist: Handelt es sich bei all diesen Neuerungen, wie der Autor nahelegt, um klimabedingte Anpassungsleistungen? Mit anderen Worten: Hätte es sie nicht gegeben, wenn es in Europa warm geblieben wäre? Blom selber zögert, seine These so weit zuzuspitzen.
"Nur sehr wenig kann direkt und kausal aus einem einzigen Grund wie dem Temperatursturz zwischen der mittelalterlichen Warmperiode und der […] Kleinen Eiszeit hergeleitet werden. Der Klimawandel war aber […] ein Katalysator, der diese Prozesse beschleunigte, andererseits ein […] Druckfaktor, der weitere Umwälzungen […] erzwang."
Am überzeugendsten kann Blom seine These da belegen, wo er die klimabedingte Revolution der europäischen Landwirtschaft beschreibt. In Zeiten schlechterer Ernten hatte der feudale Subsistenz-Ackerbau ausgedient. Um die Ernährung zu sichern, bedurfte es jetzt massenhafter Getreideimporte. Im Gegenzug stellten niederländische Bauern vom unrentabel gewordenen Kornanbau auf Viehwirtschaft um und begannen, die Märkte mit Milchprodukten zu beliefern. Großgrundbesitzer nahmen die verschlechterten Ertragslagen zum Anlass, ihren Besitz mit Pächter- und Gemeindeland zu arrondieren, was unzählige Landlose in die Städte trieb.
Moderne als Folge eines Kälteschocks verdient ein Fragezeichen
Bei anderen Aspekten ist der Zusammenhang weniger evident. Die Anfänge des modernen Staates und, damit einhergehend, der Aufstieg einer bürgerlichen Mittelschicht sind in Frankreich schon im 13. Jahrhundert zu beobachten. Die koloniale Expansion hatte ihre Wurzeln in der Erforschung des Seeweges nach Indien, mit der die Portugiesen um 1400 begannen. Die aufgeklärten Ideen individueller Menschenrechte und einer säkularen Gesellschaft hatten womöglich mehr mit dem konfessionellen Pluralismus zu tun, den die Reformation hervorgebracht hatte, als mit sinkenden Temperaturen.
Blom hat eine lehrreiche Geschichte der Frühneuzeit verfasst, die gewiss auch Anlass gibt, über Zusammenhänge zwischen Klima und Innovation nachzudenken. Die These der Geburt der Moderne aus einem Kälteschock verdient indes ein Fragezeichen.
Deutschlandfunk | Winfried Holderer