Wien hat seit 1945 nicht an zu viel, sondern zu wenig Fremdheit gelitten. Ein neues Migrantenproblem ist entstanden, denn fremde Stimmen sind kaum daran beteiligt, die neuen Geschichten dieser Stadt mitzuformen.
Wien ist ein idealer Ort, um über das Fremdsein nachzudenken. Von den Türkenbelagerungen bis zu den kulturellen Konflikten in der Hauptstadt des Habsburgerreiches ist dies immer ein Ort gewesen, an dem Fremdheit und rivalisierende Nationalitäten den politischen Alltag prägten und den Autoren dieser Stadt ein besonders scharfes Ohr für Idiome und Identitätsentwürfe gaben.
Die Fremdheit ist das, was anders ist, was nicht Teil ist von uns. Als ein im protestantischen Norden aufgewachsener Deutscher bin ich fremd in Österreich, weil ich die Geschichten, die einen Österreicher ausmachen, nur begrenzt teile – wenn auch viel mehr als eine Migrantin aus Ghana oder Vietnam. Die Unterschiede reichen von Wörtern, Akzenten und Sprachmelodien (als Kind dachte ich, Falco sänge La didel dum, der Kommissar geht um) bis hin zu Gutenachtgeschichten und dem hier alles durchdringenden kulturellen Katholizismus, das gewisse Fatalistisch-Barocke, der Schmäh. Ich kenne sie und bewundere sie oft, aber aus einer Außenperspektive. Meiner säkularen Weltsicht zum Trotz bin und bleibe ich Kulturprotestant.
Wien ist ein idealer Ort zum Fremdsein, und es hat seine kulturell größte Zeit erlebt, als sich hier Tschechen und Ungarn, Deutsche und Juden aneinander rieben, mit- und oft auch gegeneinander lebten und Geschichten von sich erzählten. Denn Fremde sind geborene oder doch gewordene Geschichtenerzähler. Wer sich nicht als gegeben hinnehmen kann, der muss sich erklären, rechtfertigen, neu erfinden, muss seinen Gründungsmythos pflegen. Wer weggegangen ist von zu Hause, hat damit eine Geschichte begonnen, die zu Ende zu erzählen er verdammt ist. Nur was für Geschichten er sich erzählt, das liegt an der Situation, in der er lebt.
Die Bibel, einer unserer Gründungsmythen, ist geradezu besessen von Fremdheit und Exil: die Vertreibung aus dem Paradies, die Sintflut, der Turmbau zu Babel, Israel in Ägypten, Hiob und Jonas, das babylonische Exil – alles Geschichten von Fluch und Flucht, Versuchung und Verwirrung. Jedes Stück Brot erzählt eine Geschichte über Hungersnöte und Ernten, Armut und Reichtum, Städter und Bauern, Rituale und Werte. Wer, wie meine Mutter, kein Brot wegwerfen konnte, weil sie vielleicht den Krieg erlebt hatte, kann es nicht, weil Brot für so viel steht, weil der Bedeutungsgehalt einer Scheibe Brot so unglaublich viel höher ist als der Nährwert.
Der Fremde ist der Noch-nicht-Angekommene, der Nicht-Selbstverständliche. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erzählten sich Fremde in Wien ihre Geschichten und schufen dadurch eine neue Sprache der Identität: Karl Kraus durch seine Sprachethik, Schnitzler in die Verstrickungen seiner Figuren in ihre Geschichte, Mahler in seiner Zerrissenheit zwischen ekstatischer Hoffnung und Ironie, Freud durch die Benennung psychischer Strukturen und so weiter, on connaît la chanson.
Wie bei allen Migrantengruppen vollzog sich dies auch bei den Juden in einer Entwicklung über zwei oder drei Generationen. Der erfolglose Tuchhändler Kallamon Jacob Freud war ebenso wenig eine Stütze der Wiener Hochkultur wie heute der Besitzer einer türkischen Bäckerei um die Ecke, aber er brachte große Opfer, um es seinem Sohn Siegmund zu ermöglichen, eine gute Schule zu besuchen. Es waren die Kinder und Enkel der jüdischen Einwanderer, die die Kultur der Jahrhundertwende maßgeblich prägten. Machen es die eigenen Traditionen und westlichen Strukturen dem Sohn oder der Enkelin des türkischen Bäckers heute leichter oder schwieriger, an der Kultur seines Heimatlandes Österreich teilzunehmen?
Vor einiger Zeit habe ich einer Freundin Wien gezeigt. Am Graben sah sie sich um und flüsterte: „I miss the Jews.“ Tatsächlich hat Wien seit 1945 nicht an zu viel, sondern zu wenig Fremdheit gelitten. Ein neues Migrantenproblem ist entstanden, denn fremde Stimmen sind kaum daran beteiligt, die Sprache und die neuen Geschichten dieser Stadt mitzuformen. Sogar aus der überdurchschnittlich gebildeten und überwältigend säkularen iranischen Emigration hat kaum einmal jemand Aufnahme in die kulturellen Institutionen und ihre Diskussionen gefunden.
Fremd sein in Wien heißt leider oft auch fremd bleiben, denn anders als in den großen Metropolen ist die Alltagskultur Wiens heute nur wenig international geprägt. Der Traum vom Kulturraum Mitteleuropa scheint ausgeträumt oder doch eingemottet mangels Bedarf. Osteuropäische Nachbarn machten ihre Ovationen nach dem Mauerfall lieber in Richtung Brüssel, oder gleich Washington. Dabei muss man sich in der Heimat des großartig geplanten „Bahnhof Europa Mitte“ immer mehr nicht nur mit der Fremdheit auseinandersetzen, sondern auch mit der Politik gewordenen Angst davor. „Fremdheit ist Bedrohung“, heißt der Sirenenruf, dem auch im bürgerlichen Lager kaum ein Politiker widerstehen kann. Die dafür benutzte Schablone der kulturellen Identität entstammt dem Kulturkampf der Zwischenkriegszeit, der volkstümelnden Verklärung der ländlichen Armut. Das ist die Kultur, die durch Fremde nicht zerstört werden darf.
Wenn wir nicht zu bloßen Wärtern im Museum Europa werden wollen, wenn wir eine Kultur wollen, die sich selbst neu definiert, ist dies nur in der Auseinandersetzung mit den fremden Stimmen in der eigenen Gesellschaft möglich. Migrantinnen und Asylsuchende, Flüchtlinge und Exilanten konfrontieren nicht nur mit Fremdheit, sondern auch mit dem Abhandenkommen der Selbstverständlichkeit im eigenen Leben. Heute steckt in jedem von uns ein Migrant, wir wissen, dass wir für die anderen selbst andere sind, dass unsere Wahrheit nicht über alles erhaben ist, unsere Identität instabil und immer aufs Neue ausgehandelt. Das Fremde ist nicht mehr das, was unterworfen werden muss, heute ist es ein Teil von uns, durch den wir lernen uns selbst besser zu verstehen, Grenzen zu definieren und Möglichkeiten zu entdecken.
„You come and go and nobody cries after you“ – so hat eine 1939 aus Ungarn geflüchtete Freundin und Weltenbürgerin einmal sehr lakonisch ihr Fremdsein beschrieben. Sie spricht verschiedene Sprachen, aber keine ohne Akzent, ist fremd, wo immer sie lebt, und hat es sich damit eingerichtet. Vielleicht schaffen wir es ja doch noch, unsere Gesellschaften nicht als fiktive Volksgemeinschaften, sondern als solidarische Netzwerke von potenziellen Fremden zu denken, denn jede Person, der keine Träne nachgeweint wird, ist eine verlorene Chance.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)
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