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Michael Köhler: Der Fall der Mauer 1989 war auch ein geschichtsphilosophisches Zeichen. Die Blockkonfrontation endete, die EU-Erweiterung begann, aber folgte auf den Kalten Krieg der ewige Frieden? Ein Miteinander ohne kriegerische Konflikte - mehr noch: ein postideologisches Zeitalter? Mit seiner Formel vom Ende der Geschichte legte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nahe, die liberalen Demokratien hätten gesiegt. Auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten folge weltweit die Internationalisierung des Rechts, der Menschenrechte. Ich habe mit dem Wiener Historiker und Buchautor Philipp Blom darüber gesprochen, der viel gelobte Bücher über die kulturellen Bedingungen vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geschrieben hat und ihn gefragt, was war das, diese These vom Ende der Geschichte? Eine Absage an den Totalitarismus?
Philipp Blom: Es war die triumphale Schlussfolgerung, die triumphale und leider falsche Schlussfolgerung, dass alle Menschen das eine wollen in ihrem Leben, nämlich in liberalen Gesellschaften sicher leben, und dass nur eine Gesellschaft das bereitstellen kann und dass deswegen alle Menschen und letztendlich alle Gesellschaften sozusagen magisch da hingezogen werden. Fukuyama sagte ja nicht, es wird nichts mehr passieren. Er meinte nur, die ideologische Schlacht zwischen der Sowjetunion und dem kapitalistischen Westen war geschlagen, China öffnete sich für erste demokratische zaghafte Tendenzen, es schien so, als würde jetzt wirklich sozusagen alles zwingend auf liberale Gesellschaften zugehen.
"Freiheit ist nicht neutral"
Köhler: War es die Absage an naiven Geschichtsfortschrittsglauben?
Blom: Ja, ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Denn ich meine, Fukuyama ist viel kritisiert und belächelt worden, aber er ist eigentlich auch viel interessanter, als viele Menschen glauben, und er führt eine wesentlich feinere Klinge. Und er selbst glaubte, dass dieses Ende der Geschichte eine sehr traurige Zeit sein würde, wenn Menschen sich nicht mehr für Ideen einsetzen, sondern nur noch Zahlen ansehen und auf Statistiken schauen. Es war nicht so, dass Fukuyama den Triumph verkündete nur, sondern er versuchte, das auch wissenschaftlich darzulegen. Er glaubte, dass der Liberalismus siegen würde. Er ist aber natürlich die Frage schuldig geblieben: Was heißt denn eigentlich liberal, was ist eigentlich Freiheit? Denn Freiheit, wie wir alle wissen, ist nicht neutral, Freiheit ist immer eine Frage der Abwägung. Und das heißt, es können sich natürlich unendlich viele Konzeptionen von Freiheit ergeben und wie man die schafft in einem Staat. Das hat Fukuyama längst auch gesehen. Also, Fukuyama ist nicht einfach der erzkonservative oder neokonservative Naivling, auf dem man herumhauen kann, er ist wesentlich interessanter. Aber ob das die Absage ist an den Historismus oder an eine Art Determinismus der Geschichte, das heißt also, dass alles zwangsläufig so gehen muss, das glaube ich eigentlich nicht. Vielleicht im Gegenteil, es ist ja - letztendlich steht er da in einem großen Schatten, der aus Deutschland geworfen wird, nämlich dem Schatten von Hegel, wie so viele in der Philosophie zwischen Hegel und heute. Und Hegel hat ja diese Idee formuliert, dass die Geschichte, wie er sagte, sich selbst realisiert, dass sie also zwingend auf ein ideales Ende zugeht. Und wie dubios diese Vision ist, das kann man schon daran sehen, dass für Hegel im Prinzip das Ende der Geschichte, also der Idealzustand der Menschheit fast magisch zusammenfiel mit dem norddeutschen Protestantismus. Und es ist natürlich eine atemberaubend provinzielle Vision der Geschichte, die nicht zulässt, dass andere Kulturen, dass andere Geschichten, dass andere Werte irgendeinen Wert haben, sondern magischerweise ist es eben die eigene Kultur, die eigene Geschichte, die die einzig valide ist, die die einzig wertvolle ist. Es ist ein bisschen so, wie man nie einen Rassisten trifft, der herausgefunden hat, dass er zur zweit- oder drittwertvollsten Menschengruppe gehört.
Köhler: Ich bin froh, dass Sie so früh schon darauf zu sprechen kommen, weil ich mit Ihnen im zweiten Teil gerne dieses geschichtsphilosophische Problem noch mal erörtern möchte, dass es eben nicht so etwas wie eine datierbare Formation gibt, ein Ziel und Ende der Geschichte, die Freiheit aller - so wurde das pathetisch zu Hegels Zeiten gedacht -, denn das hat Fukuyama ja auch schon früh gedämmert, da gibt es eben durchaus noch andere. Beispielsweise, er dachte an die Islamische Republik Iran, die nun weiß Gott nichts mit liberalen westlichen Demokratien im Sinn hatte. Lassen Sie mich doch mit Ihnen noch ein paar Probleme erörtern: Da gibt es die Teilstaatenwünsche nach '89, da gibt es die Balkankriege, da gibt es das große Problem der Renationalisierung, da gibt es völkerrechtswidrige Kriege... Also, die westliche Wertegemeinschaft ist nun nicht so homogen und attraktiv, wie man da immer meinen könnte. Kurz gesagt: Könnte es nicht sein - das ist meine Vermutung, wenn ich mir so angucke, was an neuen Ressentiments ja auch gewachsen ist in Europa, also Homophobie, Rechtspopulismus und so weiter, Angst vor Wohlstandsverlusten -, dass nach dem Fall der äußeren Mauer vielleicht eine Art innere Mauer entstanden ist, also so etwas wie destruktive Kräfte sich gehalten haben?
"Denken des freien Marktes reduziert die Freiheiten von Menschen"
Blom: Na, ich meine, wie sollte es denn anders sein? Gesellschaften sind über Jahrhunderte gewachsen, tragen ihre eigenen Erfahrungen mit sich. Und das wird ja nicht über Nacht weggewischt. Und wie weit es mit der westlichen Wertegemeinschaft her ist, das sehen Sie ja am Beispiel der syrischen Flüchtlinge, wo viele der Menschen gerade auch, die selber schlimme Erfahrungen gemacht haben, sagen, nein, die nicht, das ist mir zu viel. Das heißt, Sie sehen es an dem jämmerlichen Herumlavieren der europäischen Staaten, dass diese Wertegemeinschaft, die wir immer wieder so beschwören, letztendlich, wenn es darauf ankommt, ganz schnell zerbröselt.
Köhler: Gibt es nicht noch einen weiteren Aspekt, den Sie zu Beginn genannt haben, also einerseits die liberalen Verfassungen, andererseits aber auch der fast schon krankhafte Glaube an den Kapitalismus, oder etwas anders gesagt an den Marktmissionarismus? Denn wir erleben ja, dass er nicht mehr Freiheit und gleichere Bedingungen gebracht hat, sondern in weiten Teilen der Erde Ungleichheit!
Blom: Das ist etwas, wovon Fukuyama auch gesagt hat, dass er das so nicht vorausgesehen hat. Denn Fukuyama ging davon aus, es würden liberale Demokratien jetzt entstehen. Und er hat damals mit etwas, sagen wir, gewollter Blindheit Amerika als eine solche liberale Demokratie bezeichnet. Aber die Tatsache, dass natürlich viel dem Markt untergeordnet wird, dass man, um eine liberale Demokratie zu haben, auch Menschen Möglichkeiten geben muss, sich überhaupt zu entfalten, und dass man deswegen zum Beispiel so etwas Fürchterliches wie Umverteilung unternehmen muss, das ist natürlich in Amerika wesentlich weniger passiert als in Europa. Und vieles ist eben dem Markt unterworfen worden, er hat das schon so ein bisschen vorausgesehen, als er gesagt hat, wir werden alle zu Erbsenzählern werden, die sich nicht mehr für Ideale interessieren. Nun ist es ja so, dieses Denken des freien Marktes, des freien und unbehinderten Marktes, das, was man so ein bisschen unexakt den Neoliberalismus nennt, weil er weder neu ist noch liberal, dieses Denken reduziert eben die Freiheiten von Menschen ganz erheblich, indem es alles auf Markteffizienz reduziert. Es ist auch ein seltsam religiöses Denken, das viele Dinge einfach annimmt.
"Wir handeln nicht rational"
Köhler: Ja, sehr gut. Es ist kein neuer Gedanke, dass in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, der Fortschrittsgläubigkeit, des Sich-Entfaltens, der Vernunft und der Freiheit, der sich entäußernden Geschichte, dass darin auch ein Stück weit Geschichtstheologie steckt, also die Säkularisierung und Emanzipation sicherlich auch ein Stück weltliches Heilsdenken beinhaltet. Ist das nicht aber fast schon häretischer Gedanke, indem man die Geschichtsphilosophie, also das Zusteuern auf ein erlösendes Ziel der Geschichte hin glaubt anzunehmen? Denn alles, was wir erleben, ist ja streckenweise das Gegenteil!
Blom: Es ist nicht häretisch, aber es ist sicherlich gegenfaktisch. Denn wie Sie sagen, das, was wir erleben, ist eben, dass Menschen reagieren nicht als rationale Entitäten, die sich in ihrem eigenen, objektiven, besten Interesse verhalten. Das sehen Sie schon am Wahlverhalten von Menschen, wo sehr arme Menschen oft für sehr aggressiv, auch wirtschaftsliberale Parteien wählen. Und es ist nicht so, dass sie davon persönlich einen Nutzen ziehen würden, sondern es ist eher so, dass sie sich selber lieber als die Menschen sehen, die von so einer Partei einen Nutzen ziehen, das heißt, die Menschen, die selber Chancen haben, die Menschen, die selber was zu sagen haben. Wir handeln nicht rational. Und wir haben erlebt in der Welt, dass eben viele Menschen sich als Verlierer der Geschichte betrachtet haben nach 1989, dass sie geglaubt haben und noch glauben, dass der Westen in einem neokolonialen Projekt versucht, den Rest der Welt zu beherrschen, und dass man dagegen etwas aufbauen muss. Und da fängt die Geschichte dann eben wieder an, auch wenn sie vielleicht im Rückwärtsgang anfängt. Ich meine, was der IS tut, das heißt, ein völlig synthetisches, völlig unislamisches Reich im Namen des Islam zu schaffen, das keine Geschichte kennt, das übrigens auch keine muslimische Tradition kennt. Das heißt, all die Auslegungen des Koran, die in den Jahrhunderten der muslimischen Tradition entstanden sind, werden davon nicht anerkannt, also, es ist wirklich Geschichte im Rückwärtsgang. Aber es ist natürlich auch ein dezidiert antiwestliches Projekt von Menschen, die sich von der Vorherrschaft des Westens gedemütigt fühlen.
"Ein Ende der Geschichte kann es gar nicht geben"
Köhler: Unterm Strich: Die These vom Ende der Geschichte ist nicht der Beginn der flächendeckenden Erlösung?
Blom: Es ist nicht der Beginn der flächendeckenden Lösung, das hätte Fukuyama auch nie behauptet. Wie gesagt, so dumm und so eindimensional ist er nie gewesen. Er kam stark aus der neokonservativen Ecke in Amerika, aber er selbst hat darüber hinausgedacht, hat als junger Mann dieses Buch geschrieben und hat aber weitergedacht an diesem Thema und hat natürlich auch gesehen, dass erstens die Geschichte global nicht aufgehört hat, sondern im Gegenteil sich eigentlich eher angeheizt hat und leider auch nicht nur metaphorisch aufheizt, sondern dass auch in Amerika eben nicht die liberale Gesellschaft entstanden ist, von der er glaubte, dass sie entstehen müsste, sondern eigentlich eine ganz knallharte Marktoligarchie entstanden ist. Das heißt, die Gesellschaft, von der Fukuyama glaubte, sie müsste entstehen, ist nicht entstanden, und wir kommen zurück eben zu der Frage, wie definiert man eigentlich Freiheit? Und das ist eine Frage, da verrate ich Ihnen ein kleines Geheimnis, die kann man nicht objektiv beantworten, diese Frage, die kann man nur immer weiter diskutieren. Man kann nur immer weiter versuchen, anzupassen und neu zu verhandeln und Kompromisse zu machen, und irgendwie versuchen, das Beste für die meisten Menschen herauszuholen. Aber die Rahmenbedingungen davon ändern sich so stark, und auch das, was Menschen mitbringen aus ihrer historischen Erfahrung, aus ihren religiösen Traditionen, aus der rezenten Geschichte - denken Sie an Deutschland und den Zweiten Weltkrieg, und wie das auch das Wertesystem der Deutschen dramatisch geprägt hat, im Gegensatz zu anderen Ländern -, das heißt also, wie wir unsere Werte definieren, kann man nicht ein für alle Mal objektiv feststellen und dann danach alles richten, sondern es ist ein immer weitergehender Prozess. Und darin liegt natürlich auch schon die Tatsache, dass es eben so ein Ende der Geschichte gar nicht geben kann.