Österreich ist ein traumatisiertes Land, ein Rumpfstaat, übrig geblieben nach dem Ende der Doppelmonarchie. Die Kontroversen von damals wirken bis heute nach - es ist eine zerrissene Republik auf der Suche nach Identität.
Was politische Kulturen gemeinsam haben, ist ihre Einzigartigkeit: Strukturen und Traditionen, die oberflächlich betrachtet verständlich scheinen, aber tatsächlich nichts erklären. Auch der spektakuläre Zusammenbruch der Koalition zwischen der von Sebastian Kurz neu frisierten ÖVP und der FPÖ und das Zustandekommen dieser Regierung stehen in einer Tradition, die sich aus dem Tagesgeschehen nicht erschließt.
Der österreichische Nationalismus und auch alte und neue Nazi-Parolen, Verschwörungstheorien und rassistische Klischees werden in Kreisen der FPÖ häufiger und ungenierter gebracht, als etwa in deutschen rechtskonservativen Kreisen (was allerdings nicht heißt, dass sie dort nicht bestehen). Das hat die Regierung Kurz immer wieder in Bedrängnis gebraucht: Rassistische und antisemitische Umtriebe in der Partei und in Burschenschaften, denen ein erheblicher Teil der FPÖ-Verantwortlichen ebenfalls angehört, zwangen Vizekanzler Strache immer wieder dazu, sich auf der Suche nach politischer Respektabilität von seinen eigenen Leuten zu distanzieren. Zugleich heizte der ehemalige Propagandachef und jetzige Innenminister Herbert Kickl die Situation durch provokante Auftritte und Gesetzesänderungen immer wieder an.
Tiefenschärfe
Historische Kontinuitäten können politischen Analysen dabei Tiefenschärfe geben. Der österreichische Rechtspopulismus, der heute verstärkt die Öffentlichkeit mit Nazi-Rhetorik, Verschwörungstheorien und rassistischen Parolen auflädt und vergiftet, wäre so nicht möglich gewesen ohne das Trauma des verlorenen Weltkrieges - des Ersten. 1919 war ein ehemaliges Reich, das zwanzig Prozent von Europa beherrscht hatte, von der Landkarte verschwunden. Die Alliierten hatten es zerschlagen. Ehemalige Kronländer wurden zu unabhängigen Nationen.
Der zurückbleibende, großteils Deutsch sprechende Rumpfstaat Österreich (ein Land, das auf keiner Schulkarte des Habsburgerreiches verzeichnet war und so nie bestanden hatte), hatte sein landwirtschaftlich wichtiges Hinterland an Ungarn verloren, wichtige Industriestandorte und Bodenschätze an die Tschechische Republik. Schlimmer aber: Eine österreichische Identität gab es nicht, zumal Kaiser Franz Joseph I., der sechzig Jahre lang regiert hatte, jede Art von Nationalismus mit dem größten Misstrauen gesehen hatte. Zum neu erfundenen Land musste auch die Identität noch erfunden werden.
Kulturkampf in einer ungewollten Nation
So entstand ein Kulturkampf zwischen katholisch-konservativen und progressiven oder sozialistischen Kräften, die sich bei dem kurzen Bürgerkrieg 1934 in Form des sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes und der rechten Heimwehr auch Straßenschlachten lieferten.
Im Zuge dieser politischen, aber auch kulturellen Auseinandersetzung wurden beispielsweise auch Trachten - bis dahin einfach die Kleidung von Teilen der Landbevölkerung, die gelegentlich in Orten wie Bad Ischl auch während der Sommerfrische getragen wurde - zum politisch-identitären Symbol, während sich die Sozialisten damals oft an der Ästhetik der Sowjetunion orientierten.
Österreich war eine ungewollte Nation, zerrissen zwischen katholisch-konservativen und sozialistischen Visionen. Dabei gibt es auch hier unerwartete politisch-intellektuelle Traditionen. So waren es zum Beispiel Sozialisten wie der in Mähren geborene Staatskanzler Karl Renner, die deutschnational argumentierten, weil sie das deutschsprachige Überbleibsel des Habsburgerreichs, das Österreich war, nicht als entweder legitim oder notwendig erachteten. Lieber wollten sie sich mit den Genossen im Norden zu einer mächtigeren Union zusammenschließen, zumal die sozialistische Bewegung im stärker industrialisierten Deutschland auch mächtiger war als im ländlichen Österreich.
Die Vision Mitteleuropa
Konservativere und häufig ländliche Bevölkerungsgruppen hingegen verbanden einen konservativ geprägten Katholizismus oft mit Nostalgie für das verschwundene Kaiserreich. Sie äußerte sich in einem stolzen österreichischen Patriotismus und besonders in Abneigung gegen deutsche Bevormundung.
Nach dem Mauerfall suchte dieser Konservatismus nach einem wiedererstarkten "Mitteleuropa" mit dem neutralen Österreich als Zentrum des politisch-kulturellen Raumes - ein kaum verhohlener, gewissermaßen modernisierter Ersatz für die verschwundene Doppelmonarchie. Viele föderalistische Strukturen in deren Ländern waren schon damals praktiziert worden. Da Österreich-Ungarn letztendlich auch an dem Missmanagement nationaler Interessen und Nationalismen gescheitert war, war es allerdings Vision und Warnung zugleich. Das war auch die europäische Vision von konservativen Intellektuellen und von Teilen der Volkspartei ÖVP, bevor Sebastian Kurz sie übernahm und umorientierte.
Rechts von diesem starken, konservativen Block zieht sich eine Traditionslinie bis ins Kaiserreich: ein aggressiver, deutschnationaler, stark rassistisch gefärbter Nationalismus der kleinen Leute. Um 1900 war es Bürgermeister Karl Lueger (Hitlers große Inspiration), der seinen Wählern mit antisemitischen Hasstiraden einheizte. In der Zwischenkriegszeit wetteiferten Deutschnationale, Faschisten und Katholiken darum, diese Rhetorik weiter zu verschärfen, und nach 1945 sammelten sich in diesem Milieu die Gründer und ersten Mitglieder der FPÖ.
Stadt gegen Land?
Noch heute wirken diese Kontroversen nach, zumal die Spaltung zwischen Stadt und Land - auch im internationalen Vergleich zwischen unterschiedlichen politischen Kulturen - hier besonders ausgeprägt ist. Fünfzig Prozent der Österreicher und Österreicherinnen leben in Dörfern mit weniger als 5000 Einwohnern, ein weiteres Viertel in Städten mit bis zu 50.000 Einwohnern. Die einzige wirkliche Großstadt ist Wien, und auch die ist mit knapp zwei Millionen unter den kleineren Europas.
Die immer noch stark ländlich geprägte Bevölkerungsstruktur Österreichs erklärt vieles über die politischen Debatten des Landes. Auf dem Land funktionieren Gemeinschaften anders, unterscheiden sich die Debatten von denen in den Städten.
Trotzdem wäre es falsch (und oft auch einer gewissen deutschen Überheblichkeit geschuldet), Österreich als überwiegend konservativ und deswegen auch nationalistisch und rassistisch zu beschreiben. Nach der Flüchtlingskrise war die FPÖ ursprünglich alarmiert, weil die Ankunft der Flüchtlinge von einer Welle der Sympathie und Solidarität getragen wurde und sich zahllose Menschen ehrenamtlich engagierten. Erst dank der Legitimierung durch Bundeskanzler Kurz konnte sie in der Regierung die Debatte wieder an sich reißen.
Österreichs politische Einzigartigkeit liegt auch in seiner traumatischen Nationsbildung vor exakt hundert Jahren. Solche politischen Traditionen haben enorm lange Tentakel, die immer weiter vordringen, bis in die Zukunft hinein. Auch die nächste österreichische Regierung wird das Trauma der nationalen Identität nicht heilen können. Das Land ist und bleibt innerlich zerrissen, auf der Suche nach einer Identität, nach einer Rolle in einem ebenso zerrissenen Europa.