Neue Zürcher Zeitung - 15.02.19 - Angela Schauer
In einer Sache waren sich die Experten einig. Die Violine, die Philipp Blom ihnen vorlegte, war ungewöhnlich undvon edler Art. Doch wer hatte sie geschaffen, und wo? Dazu hatte jeder eine andere Meinung. Blom, Historikerund passionierter Geiger, hat sich am Ende selbst auf die Suche gemacht.
Woran bemisst sich der Wert einer Geige? An der Gewissheit, dass dieser oder jener Meister sie geschaffen hat, sagt der Experte; am Erhaltungszustand, an einem soliden Nachweis, durch welche Hände sie gegangen ist – gern dürfen es auch die des einen oder anderen berühmten Virtuosen sein. Nein, klingen muss das Instrument, ruft der Musiker, sein Ton muss tragen, formbar sein bis in die subtilsten Nuancen musikalischen Ausdrucks; und zwar desjenigen, den ich anstrebe. Ach, murmelt der Amateur, meine Kleine mag keine Stradivari sein und keinen Konzertsaal mit ihrer Stimme erfüllen, aber tauschen? Nie im Leben!
Von all diesen Temperamenten trägt der Historiker Philipp Blom etwas in sich. Er hat den Blick für das, was eine schöne Violine auszeichnet, das Interesse für die facettenreiche Geschichte des Geigenbaus, verkehrt in einer Werkstatt, wo er sich mit alten Meisterinstrumenten vertraut machen kann. Er hat von Kind auf selbst gespielt und den Traum einer Musikerkarriere nur zögerlich und unwillig preisgegeben. Und er ist einer von jenen, die in einer Geige durchaus Züge eines lebendigen Wesens erkennen.
«Geigen haben Gesichter wie Menschen; alle ähnlich und doch unterschiedlich, ausgewogen oder asymmetrisch, lang oder gedrungen, elegant oder unbeholfen, von unterschiedlicher Farbe, mit sprechenden Details, mit einer eigenen Mimik. Sie haben eine Geschichte, einen Ursprung, ein klingendes Leben.» So heisst es in «Eine italienische Reise», Bloms jüngstem Buch, das er seiner Violine und deren unbekanntem Erbauer widmet.
Kein Wunder, dass er sich in sie verliebte. Das Frontispiz des Buches zeigt ein schlankes Instrument mit elegant gewölbter Decke, das von einer auffallend zart gearbeiteten Schnecke gekrönt wird, Detailaufnahmen sind jedem Kapitel vorangestellt. Eine meisterlich gearbeitete, doch nicht ohne weiteres einzuordnende Geige, die – mit den Worten des Wiener Geigenbaumeisters, bei dem er sie erwarb – «in sehr flüssigem Italienisch, aber mit einem kleinen süddeutschen Akzent» spricht.
Doch was soll das heissen?
Die Antwort auf diese Frage hat Blom gesucht und gefunden, wenn auch nicht in einer Form, die sich auf zwei simple Worte herunterbrechen liess – den Vor- und Nachnamen des Geigenbauers, der zwischen 1700 und 1750 dieses Instrument geschaffen hatte. Stattdessen fasst sie der Autor in einen vielschichtigen Bericht, der die Geschichte seiner Nachforschungen mit der eigenen musikalischen Biografie verschränkt; der an wichtigen Schauplätzen den Blick auch einmal schweifen lässt und einen gemalten Totentanz aus dem frühen 17.Jahrhundert ebenso in den Fokus nimmt wie die erotischen Abenteuer, mit denen Venedig im Barockzeitalter lockte.
Jener Totentanz ist sozusagen die Kulisse für den Ausgangsort von Bloms Recherche. Zu sehen ist er in der Stadt Füssen im Allgäu, die seit dem 15.Jahrhundert eine zugleich zentrale und oft unterschätzte Rolle im europäischen Lauten- und Geigenbau spielte. Zentral, weil die Wälder der kargen Bergregion hervorragendes Klangholz hergaben; unterschätzt, weil Armut, das strenge Reglement der Innung, später auch eine Pestepidemie und die Verheerungen des Dreissigjährigen Krieges die meisten jungen Instrumentenbauer dazu nötigten, ihr Brot anderswo zu suchen.
Einer von ihnen muss der Schöpfer von Bloms Geige gewesen sein; er verlieh ihr den «süddeutschen Akzent», jene stilistischen Merkmale, die – zunächst als einzige – von einem Experten bestätigt und der Füssener Schule zugeordnet werden konnten. Was die wesentlich prominenteren italienischen Züge des Instruments anging, lagen sich die Fachleute jedoch in den Haaren. In Mailand hiess es lediglich, die Geige wolle «eine Milaneserin sein, ist es aber nicht». Bloms mittels aufwendiger Recherchen herauspräparierte Vermutung, dass der aus Brixen stammende und in Venedig tätige Matteo Goffriller das Instrument geschaffen haben könnte, zerrissen die Londoner Experten Ingles und Hayday in der Luft; sie verwiesen stattdessen auf den weniger bekannten Antony Posch – eine These, die wiederum vom führenden Posch-Experten mit einem «nie und nimmer» weggewinkt wurde. Ein weiterer Ansprechpartner nannte den Namen eines Geigenbauers, von dem man nicht einmal weiss, ob er tatsächlich selbst Instrumente gefertigt hatte.
Es wundert nicht, dass Blom – ohne sich fachlichem Rat zu verschliessen – nach neuen Wegen suchte, um seine Suche voranzutreiben. In welchen Umständen war der Erbauer seiner Geige aufgewachsen, wohin könnte er, einmal in Italien angelangt, seine Schritte gelenkt haben; wie lebte, wem begegnete er in der neuen Heimat? Solche Nachforschungen waren von umso grösserer Bedeutung, als der Autor sich diesem Mann unmittelbar verbunden fühlte: «Unsere Finger hatten denselben Lack berührt, dieselben sanft geschwungenen Formen, die er damals geschaffen hatte. Die Resonanzen, die ich hörte, hatte auch dieser Unbekannte einst gehört, er hatte das Holz so lange bearbeitet, bis er diesen Klang erreicht hatte.»
Blom hat ihm einen Namen – Hanns – gegeben, und er versucht mit detaillierter Recherche, gelegentlich aber auch auf eigenwilligen Wegen, sich in seine Lebens- und Gefühlswelt zu versetzen. Wenn er etwa biografische Bezüge zwischen Johann Sebastian Bach und dem Geigenbauer andeutet und Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo als Spiegel einer zeittypischen Emotionalität aufruft, überzeugt der Kunstgriff als solcher nicht ganz; es ist offensichtlich, dass der Autor ihn vor allem dazu nutzte, die Leser in diesen Parthenon der Violinliteratur zu führen.
Seinem Hanns bleibt Blom auch treu, als er sich eigentlich am Ziel seiner Wünsche findet: Stefano Pio, Verfasser einer mehrbändigen Studie über venezianischen Geigen- und Lautenbau, bestätigt ihm endlich, dass die Geige tatsächlich an Arbeiten aus Goffrillers Werkstatt gemahne. Doch – so spekuliert der Autor weiter – hatte zu jener Zeit nicht auch ein Zuanne Curci, genannt Zuanne il Todesco, in Venedig Geigen gebaut? Und war «Zuanne» nicht venezianischer Zungenschlag für Giovanni – also Hanns?
Philipp Blom gesteht es mit entwaffnender Ehrlichkeit ein: Aus rationaler Perspektive sei er bei dieser Recherche manchmal über sich selbst entsetzt gewesen. Ein «Theater der Erinnerung» habe er sich da aufgebaut, «in dem historische Fakten bei dramatisch flackerndem Kerzenlicht und mit vollem Orchester und fliegenden Göttern grosse Arien und komische Rezitative improvisierten».
Musikalisch und historisch Interessierte aber werden sich mit ebenso viel Genuss wie Gewinn in diesem Theater aufhalten. Beklagen wird man höchstens ein Detail: Das Buch hätte einen absolut perfekten Schluss gehabt – doch irgendein Teufelchen hat den Autor noch ein Dutzend Seiten darüber hinaus geritten.
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