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Das Erfolgsrezept der Kleinen Eiszeit ist zur Falle geworden

Die Wochenzeitung | Raul Zelik

WOZ: Herr Blom, Ihr vorletztes Buch, «Die Welt aus den Angeln», verhandelt den Klimawandel des 17. Jahrhunderts: die sogenannte Kleine Eiszeit. Sie beginnen mit der «Winterlandschaft» des niederländischen Renaissancemalers Hendrick Avercamp. Warum?

Philipp Blom: Zuvor war weder der Winter noch die Landschaft ein Sujet der Malerei gewesen. Mit der Kleinen Eiszeit wird die Natur zu einem Objekt der Betrachtung – ganz einfach deshalb, weil ihre Zyklen auf einmal so gestört sind. Das Genre der Winterlandschaften hat aber auch etwas von «Wimmelbildern» ihrer Zeit. Man sieht ganz viele Menschen, ohne dass es einen ersichtlichen Anlass dafür gäbe. Alle wirken ganz glücklich auf dem Eis. Keiner macht Feuer, niemand scheint zu frieren. Man begreift also bald, dass es sich um ein allegorisches Bild handelt. Arme und Reiche teilen etwas: Alle bewegen sich auf dünnem Eis. Die Menschen sind voneinander abhängig, auch die Aristokraten können im Eisloch verschwinden. Und als ironisches Echo schwebt oben in der Mitte des Bildes ein Vogel. Dort, wo eigentlich der Heilige Geist sein sollte. Es ist, als wäre Gott bereits ein wenig verschwunden.

Der grosse Sozialhistoriker Fernand Braudel zeichnete die Frühgeschichte des Kapitalismus einst anhand von Krankheiten, Städten und Handel nach. Sie machen etwas Ähnliches auf der Grundlage des Wetters.
Wir sind daran gewöhnt, Geschichte als menschliche Geschichte – der Bücher, Schlachten und adeligen Hochzeiten – zu betrachten. Dahinter steckten die Vorstellung des 19. Jahrhunderts und, noch weiter zurückreichend, die des Christentums, dass wir uns als erhaben gegenüber der Natur begreifen. In Wirklichkeit jedoch sind wir eine Primatenart, die genauso von der Natur abhängig ist wie alle anderen Tierarten.

Inwiefern trug die Kleine Eiszeit, für die es ja noch keine eindeutige Erklärung gibt, zum Sprung in die kapitalistische Moderne bei?
Obwohl die Ursache der Kleinen Eiszeit nicht geklärt ist, kann man ihren Verlauf sehr genau rekonstruieren. Um 1570 herum setzt eine erste grosse Kältewelle ein, gegen 1685 oder 1700 klingen die schlimmsten Kältewellen wieder ab. Damals lebte ganz Europa vom Getreideanbau, und durch die Klimaveränderung kam es immer häufiger zu Missernten. Das erschütterte die Fundamente der Gesellschaft: Es gab dreimal mehr Hungersnöte als zuvor, Krankheiten breiteten sich aus, der Getreidepreis stieg. Vor diesem Hintergrund musste man nach Neuem suchen, und dies tat eine neue Art Mensch: Leute, die in Städten wohnten und lesen und schreiben konnten. Heute würde man sie wohl als Mittelschicht bezeichnen. Sie waren bereit, über die alten Strukturen hinauszudenken. Sie betrieben Handwerk nicht mehr nur im Zunftwesen, entwickelten das Konzept der Manufaktur und den Handel und wurden empirischer in der Naturbetrachtung.

Aber Bildung hatte doch in Teilen Europas, etwa in den Städten Italiens, schon zuvor eine wachsende Bedeutung erlangt.
Richtig, aber die Renaissance war ein Elitephänomen geblieben, und die Reformation, die im 16. Jahrhundert das politische Leben erschütterte, zog noch kein neues Wissensparadigma nach sich. Die meisten Menschen lebten auf dem Land und hatten wenig Berührung mit Geld. Der «Jahrmarkt» hiess so, weil er nur einmal im Jahr stattfand. Sprich: Die Märkte spielten eine sehr untergeordnete Rolle, entscheidend waren die Höfe. In der Krise der Kleinen Eiszeit, die übrigens global ist, reagieren die Menschen an manchen Orten anders. Amsterdam zum Beispiel ist damals eine kleine, unbedeutende Stadt. Doch einige Händler beginnen, Getreide vom Baltikum zu importieren, wo die Felder grösser sind und weniger Bevölkerung lebt. Die Amsterdamer begreifen aber auch, dass sie dieses Modell ausdehnen können. Sie fahren nach «Ostindien», also Südostasien, um Gewürze einzukaufen, oder importieren Zucker und Tabak von den Sklavenplantagen der Karibik. Um das finanzielle Risiko, das der Verlust eines voll beladenen Schiffs darstellt, abzufedern, wird die Börse gegründet. So entsteht insgesamt ein anderer Zugang zur Welt.

Wie veränderten sich dadurch das Verhalten der einzelnen Menschen und ihre Biografien?
Wenn ein Handwerker früher reich geworden war, hatte er ein paar Häuser gekauft, war aber Handwerker geblieben. Er investierte höchstens in sein soziales Kapital – stiftete zum Beispiel Kirchenfenster. Jetzt jedoch versuchten Menschen, aktiv in der Gesellschaft aufzusteigen. Der Vater Rembrandts war ein Müller gewesen, hatte den Sohn aber auf die Lateinschule geschickt. Wie sehr sich das Kulturparadigma änderte, erkennt man auch an den Antworten auf die Eiszeit. Am Anfang waren diese völlig mittelalterlich: Prozessionen, Bittgottesdienste, Hexenverfolgung. Der grosse Komet von 1680 wird vom Schriftsteller Pierre Bayle hingegen nur noch naturwissenschaftlich erklärt. Das, was man da am Himmel sehe, schreibt Bayle, sei kein Bote Gottes, sondern einfach nur ein Steinklumpen.

Das ist aber keine klare Abfolge, sondern eine Art Doppelbewegung: zum einen der Aberglaube, zum anderen die radikale Aufklärung eines Baruch Spinoza, den Sie im Buch ja auch erwähnen. Da drängt sich der Vergleich mit der Gegenwart auf, in der Regression und Emanzipation nebeneinanderstehen.
Ich würde die in der Kleinen Eiszeit stattfindende Entwicklung zur Moderne als Bewegung von der Festung zum Markt beschreiben. Hier kommt die Erkenntnis des ungarischen Ökonomen Karl Polanyi zum Tragen, dass Märkte nicht isoliert existieren. Im realen Leben gibt es keine «freien Märkte». Die Gesellschaft muss ihnen Infrastruktur und einen legalen Rahmen bereitstellen. Umgekehrt wiederum verändern die Märkte die Gesellschaft, und das historisch nicht nur negativ: Sie privilegieren zum Beispiel Toleranz, regelbasiertes Handeln, Rechtssysteme. Heute erleben wir eine ähnliche Spannung. Ein grosser Teil unserer Gesellschaft will in Märkten leben, aber immer mehr wünschen sich auch zurück in die Festung. Märkte sind nämlich sehr schlecht darin, Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Sicherheit und Identität zu geben. Ausserdem verlangen sie ständige Transformation. Das ist besonders grausam für diejenigen, die für Veränderung nicht belohnt werden. Insofern ist es verständlich, dass die Festung, die eine verlässliche Identität anbietet, als Vision zurückkehrt.

Was heißt das für die Demokratie? Vielerorts ist sie heute unter Druck.
Weder Markt noch Festung ist notwendigerweise demokratisch. Der Markt ist es eher, weil er Offenheit und Transparenz benötigt. Aber wir erleben heute, dass die freigesetzten Märkte an demokratischer Partizipation nicht interessiert sind und das ganze Instrumentarium der Aufklärung ökonomisch reduzieren: Freiheit als Konsumentenfreiheit, Rationalität als Rationalisierung. Die andere Option – die Festung – ist aber noch verhängnisvoller. Der Mauerbau wird hier als Antwort auf die zerfliessende, amorphe Moderne und den Verlust der Orientierung präsentiert.

Ein Ausdruck der Krise heute scheint ja auch zu sein, dass sich die Gefahr von Kriegen wieder verschärft. Blicken wir noch einmal zurück: War der Dreissigjährige Krieg, der ja auch ins 17. Jahrhundert fällt, eine Folge der Kleinen Eiszeit?
Nein, er beginnt als innerhabsburgischer Machtkonflikt zwischen protestantischen Fürsten und ihrem katholischen Kaiser. Aber die Innovation, die mit der aufsteigenden Mittelschicht kommt, spielt auch für die Kriegführung eine grosse Rolle. Der Adel kassiert wegen der schlechten Ernte weniger Steuern, gleichzeitig wird die Kriegführung jedoch viel teurer. Die technologische Innovation, vor allem die Entwicklung der Musketen, zieht eine echte Revolution nach sich. Es ist eine sehr effektive Waffe, für die die Soldaten aber viel besser ausgebildet werden müssen. Sie müssen lernen, mit welchen standardisierten Bewegungen sie möglichst effizient feuern und nachladen können. Wir erleben hier eine Art Industrialisierung. Um die Soldaten zu trainieren, wurden sie kaserniert, was die Kriegführung viel teurer machte. Weil Fürstentümer und Königreiche in Konkurrenz zueinander standen, beschleunigte dies auch die Bildung administrativer Staaten, die die Erhebung von Steuern organisierten. Und die Merkantilisten, eigentlich die ersten ökonomischen Denker Europas, reflektieren das theoretisch und sagen etwas erstaunlich Aktuelles: Die Wirtschaft ist für sie ein Nullsummenspiel. Wenn ich reich werde, werden die Nachbarländer ärmer. Es geht also darum, billig zu produzieren und zu exportieren, um Gold zu importieren. Und wer soll diese billige Produktion gewährleisten?

Natürlich die Armen.
Genau. Sie dürfen nicht verhungern, sollen aber auch nicht glauben, dass sie ein Anrecht auf eine bessere Stellung hätten. Man muss sie kleinhalten. Hier entsteht ein wirtschaftliches Paradigma, das bis heute Bestand hat: Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruht. Mit diesem Rezept stieg Europa zur dominierenden ökonomischen Macht in der Welt auf. Und genau dieses auf Ausbeutung beruhende Wirtschaftswachstum wird heute zur Bedrohung unserer Gesellschaften. Denn unendliches Wachstum kann es nicht geben. Das Erfolgsrezept der Kleinen Eiszeit ist zur Falle geworden.

Warum setzt sich in dieser Phase im 17. Jahrhundert eigentlich Europa als globales Zentrum durch? Die Herausforderung des Klimawandels betraf ja auch andere Weltregionen.
Darauf habe ich keine gute Antwort. Es hat sicherlich mit technologischen Voraussetzungen wie dem Buchdruck, dem Schiffsbau oder der Entwicklung der Feuerwaffen zu tun. Das gab es auf anderen Kontinenten nicht oder nicht in derselben Form. Aber das bedeutet ja nicht, dass es das nicht anderswo hätte geben können. Das ist eines der grossen Rätsel der Geschichte. Europa war nicht zivilisierter als andere Regionen der Welt.

Der Siegeszug des merkantilistischen Prinzips geht einher mit der gewaltsamen Privatisierung des Gemeindelandes und der Zerschlagung einer von Gerechtigkeitsideen gehegten Wirtschaft. Karl Polanyi hat diesen Prozess auch als «Entbettung der Märkte» bezeichnet. Viele Gesellschaftskritikerinnen und -kritiker greifen heute wieder auf Polanyi zurück. Worin sehen Sie seine Aktualität begründet?
Karl Polanyi ist so wichtig, weil er sich weigert, Ökonomie isoliert zu betrachten. Für ihn ist sie nur ein bestimmter Ausdruck der menschlichen Gesellschaft. Das heisst, es ist nicht egal, wie wir zum Markt in unseren Gesellschaften stehen. Die Wippbewegung zwischen Gesellschaft und Markt muss immer wieder neu kalibriert werden. Und gerade weil die gegenteilige Behauptung zu einem Dogma geworden ist, muss man es betonen: Es gibt keine «freien Märkte». Märkte können nur existieren, weil es Strassen gibt, auf denen Waren transportiert werden, weil Menschen in Schulen lesen und schreiben gelernt haben und weil ein ganzes Instrumentarium existiert – Gesetze, Polizei, Gerichte –, um die Erfüllung von Verträgen zu garantieren.
Was ich an Polanyi zudem grossartig finde, ist seine Fähigkeit, Erkenntnisse en passant fallen zu lassen. Zum Beispiel, dass es die Aufgabe von Politik ist, Veränderung so zu verlangsamen, dass sie sozial verdaubar ist. Wir sollten allerdings auch nicht vergessen, dass er ein Stalinist war und die Verbrechen in der Sowjetunion als Kollateralschäden behandelte.

Sie haben schon erwähnt, dass Aufklärung und Ausbeutung in der Geschichte des Westens miteinander verzahnt waren. Beruht die westliche Freiheits- und Menschenrechtsidee auf Selbsttäuschung?
Selbstverständlich, und wir sollten uns dessen immer bewusst sein. Was bringt mir Freiheit, wenn ich Hunger habe? Um die Voraussetzungen für die Realisierung von Freiheit zu schaffen, brauchen wir die Infrastruktur einer Gesellschaft. Diese Infrastruktur haben wir aufgebaut, indem wir Menschen – Industriearbeiter, Kolonisierte und so weiter – unterdrückt haben. Das alles bedeutet jedoch nicht, dass die Freiheitsidee an sich korrupt wäre. Es heisst, dass wir erstens dafür sorgen müssen, die Freiheit auf andere Beine zu stellen, und zweitens, dass wir bescheidener auf die Geschichte anderer Zivilisationen blicken sollten. Die liberalen Demokratien, wie wir sie heute kennen, sind kein Naturzustand. Frauen durften in Frankreich erst 1947 wählen, in der Schweiz 1971, in Appenzell 1991. Dass es diesen demokratischen Fortschritt gab, hat viel mit Wirtschaftswachstum zu tun – einem Wachstum, das auf dem rasant steigenden Verbrauch fossiler Brennstoffe beruhte. Unsere Demokratien wären ohne Erdölboom so nicht entstanden. Und wir wissen nicht, wie Demokratien ohne steigenden Wohlstand funktionieren sollen. Das fundamentale Versprechen war ja: «Deinen Kindern wird es besser gehen.» Aber das bedeutet, dass die Wirtschaft weiterwachsen muss – was augenscheinlich ein wahnsinniges Modell ist.

Im Buch werfen Sie die Frage nach dem Klimawandel nur implizit auf. Deswegen haben Sie gleich noch ein zweites Buch hinterhergeschoben: «Was auf dem Spiel steht». Ziehen Sie für uns die Parallele: Stellt der Klimawandel, den wir heute erleben, ähnlich wie die Kleine Eiszeit des 17. Jahrhunderts auch eine Chance dar? Könnte er die emanzipatorischen Seiten der Aufklärung weitertreiben?
Ja, er könnte. Aber ich glaube nicht, dass wir das schnell genug schaffen werden. Es gibt verschiedene Modelle zur Berechnung des Klimawandels, und darin spielen «Kipppunkte» eine wichtige Rolle. Wenn die einmal überschritten sind, gehen die Veränderungen automatisch weiter. Wir wissen nicht genau, wo sie liegen und ob wir sie nicht vielleicht sogar schon überschritten haben. Klar ist jedoch, dass wir sehr wenig Zeit haben werden – im besten Fall eine Generation. Und der Inhalt der Köpfe lässt sich ja nicht einfach austauschen. Wir haben die Menschen sehr lange dazu erzogen, sich nicht als Bürger, sondern als Konsumenten zu begreifen. Ihre einzige Verpflichtung besteht darin, Schulden zu bedienen. Ansonsten können sie machen, wozu sie Bock haben – was im Übrigen auch ein genialer Mechanismus ist, um Menschen unter Druck zu setzen. Sie werden nämlich nie gut genug sein, um den religiösen Ikonen gerecht zu werden, die ihnen von den Werbeflächen entgegenlächeln.
Uns ist bewusst, dass wir die Gesellschaft grundlegend ändern müssen, wenn wir als Zivilisation, vielleicht sogar als Spezies nicht verschwinden wollen. Die Technologien und Ideen für den notwendigen Wandel sind da. Doch er impliziert, dass wir auf manche Dinge verzichten müssten: Wir werden weniger konsumieren, weniger mobil sein.

Wie sollen wir die Menschen von einer solchen Transformation überzeugen?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will gar keine Marktschelte betreiben. Ich glaube, dass Kapitalismus in vielen Gesellschaften das beste Modell ist. Sozialismus funktioniert nur, wenn alle Menschen davon überzeugt sind. Ansonsten muss man anfangen, einen Unterdrückerstaat zu etablieren. Der Kapitalismus hingegen ist extrem gut darin, Menschen mit ganz unterschiedlichen Weltanschauungen zum gleichen regelbasierten Handeln zu bewegen. Und in pluralistischen Gesellschaften, die wir ja wollen, ist das etwas sehr Wertvolles. Aber es ist klar, dass wir den Markt intelligent verwenden müssten, um uns Menschen und dem Rest der Natur ein besseres Leben zu ermöglichen. Heute ist es andersrum, heute beherrschen diese Werkzeuge uns.

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